Bei Wilhelm I. war schon der Zeitpunkt seiner Herrschaft ungewöhnlich. Salopp formuliert: Er begann in einer Lebensphase, in der andere aufhörten. Und er hörte in einem Alter auf, das im 19. Jahrhundert kaum erreicht wurde.
Wilhelm zählte 60 Jahre, als er erstmals monarchische Machtbefugnisse in Preußen erlangte. Dies stellte im 19. Jahrhundert ein schon recht vorgerücktes Alter dar – und das wurde ihm durch sein engstes Umfeld damals auch nachdrücklich in Erinnerung gerufen: Sein älterer Bruder, König Friedrich Wilhelm IV., starb nach langem Siechtum mit 65 Jahren, seine älteste Schwester Charlotte, langjährige Zarin von Russland, verschied bereits mit 62 Jahren. Wilhelm konnte nicht davon ausgehen, allzu lange über Preußen zu herrschen. Dass daraus dann doch noch stolze drei Jahrzehnte wurden und er knapp 91 Jahre alt werden sollte, war für ihn in keiner Weise erwartbar.
Die unerwartet lange Herrschaft Wilhelms I. lässt sich in drei Abschnitte einteilen.
Der erste Abschnitt stellte Wilhelms politisch aktivste Herrschaftsphase dar. Teilweise war sie auch von der Erwartung geprägt, nicht viel Zeit für das Umsetzen ihm wichtiger Ziele zu haben. Im Oktober 1857 übernahm er ein Jahr lang die Stellvertretung des schwer erkrankten Königs Friedrich Wilhelm IV. und leitete im Oktober 1858 die bis ins Jahr 1862 reichende »Neue Ära« ein, in der er zunächst als Prinzregent, ab 1861 dann als König ein Regiment führte, das einer Selbstherrschaft nahekam.
Mehrere in diesem Zeitraum von ihm vorgenommene Weichenstellungen können für das Werden Deutschlands kaum überschätzt werden – die Beseitigung des reaktionären Regimes in Preußen; der ganz wesentlich von ihm mitbewirkte Durchbruch des Liberalismus; die Umsetzung eines umfassenden, weitgehend selbst konzipierten Aufrüstungsprogramms, das die militärische Schlagkraft Preußens massiv erhöhte und ein Schlüssel für die deutsche Einheit war; der von Wilhelm I. quasi im Alleingang losgetretene preußische Verfassungskonflikt und schließlich die Ernennung Otto von Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten.
Der zweite Herrschaftsabschnitt Wilhelms I. wurde von den Einigungskriegen gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und Frankreich 1870/71 geprägt. Zu allen drei Kriegen kam es nicht auf unmittelbares Betreiben des Königs, doch entfaltete er in seiner Funktion als Oberster Kriegsherr eine weitreichende militärische Wirkungsmacht und übte als letzter Monarch Europas im Krieg ein Armeeoberkommando aus, das mehr als eine reine Fiktion darstellte.
Die Kriegsära brachte auch eine Verschiebung in Wilhelms Aufgaben mit sich. Da in den von Preußen 1866 annektierten deutschen Staaten viel Unmut über diese Vereinnahmung herrschte, brauchte es in den Folgejahren eine intensive Reise- und Besuchsdiplomatie des Königs, um die neuen Untertanen mit der Hohenzollernherrschaft auszusöhnen und ein inneres Zusammenwachsen zu fördern. Sie beschleunigte Wilhelms bereits zuvor begonnenen graduellen Rückzug vom politischen Tagesgeschäft, wodurch sich Bismarcks Stellung deutlich verstärkte.
Der teilweise Verzicht des Monarchen auf politische Gestaltung verleitete dazu, dessen Tätigkeiten in seiner dritten Herrschaftsphase, der von 1871 bis 1888 dauernden Kaiserzeit, nahezu vollends auszublenden. Tatsächlich hatten aber auch sie keine geringe Bedeutung für den weiteren Verlauf der preußisch-deutschen Geschichte, dies vor allem in gesellschaftspolitischer Hinsicht. Wilhelm I., dessen Popularität jahrzehntelang teils heftig geschwankt hatte, erlangte als Kaiser großes Ansehen und wurde zur zentralen Integrations- und Identifikationsgestalt an der Spitze des jungen deutschen Nationalstaates. Dies wiederum versetzte ihn in die Lage, beträchtlichen Einfluss auf brisante gesellschaftliche Strömungen auszuüben. Dieser Einfluss wurde bislang wenig bis gar nicht beleuchtet – und zählt nicht zuletzt deshalb zu den besonders spannenden Aspekten im Wirken Wilhelms I. Die Herausbildung des preußisch-deutschen Militarismus etwa hielt er schon in jungen Jahren für erstrebenswert, und als er schließlich an der Spitze des Staates stand, ging er daran, sie auf mehreren Ebenen zu fördern. Auch zwischen dem Kaiser und der so genannten »Judenfrage« gab es nicht zu unterschätzende Wirkungszusammenhänge, die bislang noch keiner genaueren Betrachtung unterzogen wurden. Entscheidend war dabei nicht immer, was er tat, sondern auch, was er nicht tat.
Und noch eine tiefe Spur hinterließ Wilhelm I. in der preußisch-deutschen Geschichte.
Die deutsche Einheit, die sich bald zum 150. Mal jährt, wäre ohne ihn und sein individuelles Handeln so nicht zustande gekommen.
Robert-Tarek Fischer ist promovierter Historiker. Er verfasste mehrere Publikationen zur Geschichte des Mittelalters sowie zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und ist seit vielen Jahren im österreichischen Bundeskanzleramt tätig. Letztes Jahr erschien seine Biographie »Richard I. Löwenherz. Ikone des Mittelalters« in neuer Auflage. Zum Jubiläum der Deutschen Reichsgründung von 1871 wendet er sich in seinem neuen Buch »Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser« einer oft unterschätzten Figur der deutschen Geschichte zu.