In allen Organisationen sind Geschlechter-Stereotype und geschlechtstypische Rollenerwartungen an Frauen (und Männer) weiterhin alltäglich. Frauen werden allerdings nicht nur in bestimmte Rollen gedrängt, sondern sie übernehmen häufig auch selbst typische, aus der Familie bekannte Rollen, weil diese ihnen sozial und emotional vertraut sind. Die Übernahme traditioneller Rollen wie die des Mädchens, der Tochter, der Mutter, der Ehefrau, Partnerin oder Verführerin versprechen weibliches Identitätsgefühl und soziale Anerkennung im beruflichen Umfeld. Die bewusste oder unterbewusste Übernahme solcher Rollen ist für Frauen ein Risiko, sie kann auch zur Falle werden.
Karriere als Lieblingstochter?
Nette, fleißige, oft junge und manchmal noch unsichere Frauen bestätigen Männern in übergeordneten Positionen ihre männliche Überlegenheit. Sie wirken weniger beunruhigend als selbstbewusste, kritische und offen aufstiegsinteressierte Frauen. Diese Konstellation kann zu einer Vater-Tochter-Dynamik führen, in der ein Vorgesetzter die väterliche Beschützer- und Förder-Rolle übernimmt, die Untergebene dann die komplementäre loyal anerkennende Tochter-Rolle. Für Kollegen auf gleicher Ebene sind „Töchter“ und „Mädchen“ ebenfalls angenehm, weil sie nicht als Konkurrenz auftreten. „Töchter“ in vorgesetzten Positionen werden es allerdings schwer haben, sich durchzusetzen, weil sie in der Rolle als Tochter nun mal zu gehorchen und nicht zu bestimmen haben. Ein möglicher Gewinn der Tochter-Rolle besteht darin, dass Frauen in diesen Rollen zunächst keine Konkurrenzen durchstehen müssen, emotionale Sicherheit und Schutz erleben und im günstigen Fall vom Chef-Vater auch uneigennützig beruflich gefördert werden, so, wie ein guter Vater sein Kind fördert. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass sie von dieser emotionalen Beziehung abhängig bleiben und nicht lernen, sich durchzusetzen. Denn mit der Rolle einer respektierten Leitungskraft sind die Attribute fleißig, nett und harmlos schwer vereinbar. Dann kann es dazu kommen, dass eine Frau in Führungsposition sich nach einer Weile in der Rolle einer kontrollierenden Mutter wiederfindet, an die zwar rollentypische Erwartungen gerichtet werden, die aber machtlos bleibt. Solche Rollenkonflikte zeigt das Beispiel von Frau R., die ins Coaching kam, um aus einer beruflichen Sackgasse herauszukommen.
Die Oberärztin Frau R., 38, will sich darüber klar werden, ob sie ihre Leitungsfunktion behalten will. Sie kommentiert enttäuscht: „Erst habe ich für alles Verantwortung übernommen und jetzt werde ich behandelt wie eine nörgelnde Mutti“. Anfangs hat Frau R. voller Elan alle Aufgaben übernommen, die lange liegen geblieben sind. Sie hat versucht, ungeklärte Konflikte in ihrer Abteilung anzugehen und stellt fest, dass es in mehreren Berufsgruppen große Führungsprobleme gibt. Für ihr Engagement bekommt sie zunächst positives Feedback vom langjährigen Chefarzt. Aber auch nach einem Jahr ist ihre Aufgabendefinition diffus. Frau R. ist zwar für Verhandlungen mit der Geschäftsführung, Dienstplanung und Personalangelegenheiten zuständig, die letztendliche Verantwortung bleibt jedoch ungeklärt. Frau R. kritisiert, dass der Chefarzt einerseits Aufgaben schlecht strukturiere und keine Anweisungen gebe, andererseits aber alles kontrollieren wolle und sich nicht an Absprachen halte. So lange sie eigeninitiativ viel in die Hand genommen hat, ohne Forderungen zu stellen, war Frau R. die Lieblingsärztin ihres Chefs. Das hat sich geändert, seit sie verlangt, dass der Chefarzt sich in Konflikten positioniert und wirklich führt. Eine alte Dynamik wiederholt sich: Der Chefarzt übt seine Führungsfunktion nicht konsequent aus, weil ihm die Anerkennung der ihm unterstellten jungen Ärzte wichtiger ist. Die Oberärzte müssen diese Lücke kompensieren, ohne klare Aufgaben und Kompetenzen zu bekommen. Je fordernder sie werden, desto mehr fallen sie in Ungnade, Spannungen nehmen zu. Frau R. steckt inzwischen im gleichen Dilemma wie ihr Vorgänger.
…oder als strenge Mutter?
Frau R. hat sich zunächst in der Rolle einer fleißigen Lieblingstochter darum bemüht, aufzuräumen und zwischen Allen zu vermitteln. Das erweist sich als undankbare Aufgabe, denn je mehr Probleme sie zu lösen versucht, desto mehr Konflikte kommen an die Oberfläche. Sie kämpft deshalb dafür, Strukturen einzuziehen und Vereinbarungen zu treffen, deren Einhaltung sie allerdings konsequent überprüfen muss. Dies ist für viele unbequem. Jetzt gerät sie in ein negatives weibliches Rollenstereotyp: die wenig geschätzte Rolle einer kritischen Kontrolleurin oder bösen Mutter. Die Resonanz verschlechtert sich, Frau R. fühlt sich als lästige „strenge Mutti“. Das Verhältnis zum Chefarzt kühlt ab, die neue Oberärztin steht als Nachfolgerin schon in den Startlöchern. Mit ihren Ideen und Karriereplänen läuft sie ins Leere. Im Coaching wird Frau R. darin unterstützt, ihr Engagement als Troubleshooter zu reduzieren, eigene Aufgabenbereiche abzustecken und die Geschäftsleitung zur Lösung der vielfältigen Konflikte in Anspruch zu nehmen. Sie muss sich von den verschiedenen stereotypen Erwartungen lösen und lernen, mit weniger Anerkennung und mit ungelösten Konflikten zu leben. Sie entscheidet sich, wieder eine fachliche Führungsaufgabe zu übernehmen.
Anforderungen an weibliche Führungskräfte hinsichtlich Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeit spiegeln oft Bedürfnisse nach mütterlicher Fürsorge und Rücksicht wider. Dies entspricht dem Ideal der guten Mutter. Die Mutter hat in traditionellen Familien die Binnenmacht, während der Vater die Autorität nach außen repräsentiert. Deshalb gerät eine Frau in der Mutterrolle auch am Arbeitsplatz leicht in eine schwache Position mit informeller Macht, in der sie sich nur schwer verbünden kann, da sie zu wenig formale (Tausch-) Kompetenzen hat. Eine „Mutter-Führungskraft“ geht das Risiko ein, vorrangig nach ihrer unterstützenden und fürsorglichen Funktion für das Team und weniger aufgrund eigenständiger Beiträge bewertet zu werden. Diese traditionellen Stereotype von Weiblichkeit können also in Karriere-Sackgassen führen. Nur der Mythos der Amazone vermittelt ein Bild davon, wie die Grenzen stereotyper Geschlechtervorstellungen in einem starken Frauenverbund überwunden werden können.
Karriere nur als Amazone?
Die Amazone ist ein mythologisches Modell weiblichen Heldentums. Eine starke, kämpferische Frau schmiedet machtvolle Koalitionen mit anderen Frauen (Amazonenheer), die sie auf einflussreiche Positionen platziert. Die Amazone ist die einzige Rolle, mit der egalitäre Geschlechterverhältnisse hergestellt werden könnten, manchmal jedoch mit starkem Gegenwind. Zur Abwehr werden oft negative Stereotype wie „Emanze“ oder „eiskalte Karrierefrau“ ins Spiel gebracht.
Frau M., 36, ist in einem internationalen IT-Unternehmen nach sechs Jahren als Informatikerin bereits Leiterin eines 25-köpfigen Teams. Sie hat stark auf ihre fachliche Leistung gesetzt. Als Abteilungsleiterin von teilweise deutlich älteren Mitarbeitern stößt sie jetzt an Grenzen. Frau M. sagt über sich, sie „habe von Anfang an gewusst, was sie wollte“. Für sie war immer klar, dass sie in ihrer Firma Karriere machen will. Sie wollte Schlüsselpersonen kennenlernen und sich im Unternehmen bekannt machen. Deshalb hat sie sich ehrenamtlich in betrieblichen Sozialprojekten engagiert. Im Rahmen der Personalentwicklung für Führungskräfte hatte sie eine Mentorin, die sie aktiv gefördert hat und die für sie auch ein persönliches Vorbild ist. Sie ist im Unternehmen gut vernetzt, auch unter den (wenigen) weiblichen Nachwuchsführungskräften. Inzwischen hat sie ihre erste Abteilungsleitungsposition erreicht. In ihrer Führungsposition verhält sich Frau M. kompetent und fair, sie praktiziert einen kooperativen Führungsstil. So ist sie bei ihrem Team und ihrem Vorgesetzten beliebt, von dem allerdings keine Vorschläge für nächste Karriereschritte mehr kommen. Die älteren Mitarbeiter appellieren an sie, das Team nicht so schnell für die nächsthöhere Karrierestufe wieder zu verlassen, so wie die nur am eigenen Aufstieg interessierten (männlichen) Vorgänger. Die Mentorin warnt Frau M. davor, „zu gut zu führen“. Als Führungskraft könnte sie so komfortabel und unersetzlich werden, dass ihr Vorgesetzter und ihr Team kein Interesse mehr hätten, sie wieder „herzugeben“. Es allen Seiten Recht machen zu wollen, sei eine Falle, besonders für hochmotivierte Frauen. Die Erwartungen an Frau M. entsprechen Wünschen an eine verantwortungsbewusste und fürsorgliche Mutter (im Team) oder kompetente Partnerin (vom Vorgesetzten). Die Mentorin verspricht, sich in ihrem Netzwerk dafür einzusetzen, dass sie neue Chancen bekommt. Aber Mentoring allein reicht nicht.
Im Coaching wird klar, dass Frau M. bei ihrem Vorgesetzten selbst offensiv die Entwicklung von Aufstiegsoptionen einfordern muss. Sie erlebt, dass auch in einem modernen, gleichstellungsfördernden Unternehmen traditionelle Stereotype weiter wirksam sind. Durch die Appelle ihres Teams ist sie verunsichert. Bei der Reflexion ihrer eigenen Werte stößt sie auf den Vorsatz, nicht als „kalte Karrierefrau“ handeln zu wollen, so wirken negative Stereotype auch von innen. Sie will sich ihren eigenen Werten entsprechend verhalten, stellt aber fest, dass die Nutzung von Karrierechancen auch mit der Abgrenzung von Erwartungen an (weibliche) Empathie verbunden ist. Generell muss Frau M. auch das Risiko eingehen, auf ihrem Karriereweg Erwartungen zu enttäuschen. Sie ist in eigener Sache als „Amazone“ gestartet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Weil sie im Coaching das Thema Macht als positiven Umgang mit eigenen Interessen, Kompetenzen und Ressourcen zu betrachten lernt, kann sie eine selbstsicherere Einstellung zur Nutzung eigener Einflussmöglichkeiten entwickeln. Ihre Mentorin und ihr berufliches Netzwerk stärken sie in ihrer Souveränität. Nach kurzer Zeit wird Frau M. für eine hochrangig besetzte Projektgruppe vorgeschlagen.
Karriere in wechselnden Rollen
Die Beispiele zeigen, dass der Karriereweg für Frauen in Führungspositionen oft als Gratwanderung zwischen verschiedenen Weiblichkeits-Modellen und fachlicher Professionalität verläuft. Selbst wenn eine Frau sehr selbstbewusst und „amazonenhaft“ startet, trifft sie auf traditionelle emotionale Rollenerwartungen und kann sich gerade als Nachwuchs-Führungskraft in Sackgassen wiederfinden. Traditionelle Rollenangebote bergen Risiken, eröffnen allerdings auch mikropolitische Handlungsspielräume, denn Frauen können potentiell in allen Rollen situationsspezifisch einflussreich sein. So ist in einem Konfliktfall vielleicht das Agieren in einer deeskalierenden Mutterrolle günstig, während bei Verhandlungen mit Geschäftspartnern ein charmantes Auftreten Vertrauen und gute Beziehungen schaffen kann. Das souveräne Spiel mit traditionellen Frauen-Rollen setzt voraus, dass diese mikropolitisch reflektiert und mit Rollendistanz eingesetzt werden. Ein reflektiertes Verhältnis zur eigenen Wirksamkeit und Macht ist in jedem Falle Voraussetzung für Erfolg. Denn es kommt eben immer darauf an, wer die Regie führt.
Riskante Rollen von Frauen, Perspektiven auf Geschlecht und die allgegenwärtige Handlungslogik von Mikropolitik beschreiben Daniela Rastetter und Christiane Jüngling in ihrem Buch »Frauen, Männer, Mikropolitik – Geschlecht und Macht in Organisationen« anhand von Fallbeispielen praxisnah und theoretisch fundiert. Das Buch ist in der Reihe »Beraten in der Arbeitswelt« erschienen. Die Autorinnen plädieren für Genderkompetenz und Mikropolitische Kompetenz in jeder Beratung und zeigen anschaulich, wie sich dieser Ansatz realisieren lässt.