Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser – Teil 2: Trauer in Berlin

In den letzten Märztagen des Jahres 1848 galt Prinz Wilhelm in Berlin als eine Art Paria. Geistliche sprachen beim sonntäglichen Kirchengebet keine Fürbitte für den Thronfolger mehr aus. Ladenbesitzer entfernten Schilder mit der Aufschrift Hoflieferant Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen von Preußen aus ihren Geschäften. Und Wilhelm erweckte, obwohl er sich gar nicht mehr in der Hauptstadt befand, immer noch Furcht, die leicht in Hysterie oder zerstörerische Wut umschlagen konnte. Einmal löste das Gerücht, er sei gar nicht geflohen, sondern schicke sich an, mit der Armee die Hauptstadt zu stürmen und die Revolution niederzuwerfen, eine Massenpanik aus. Ein anderes Mal zogen wütende Massen zu seinem Palais an der Berliner Prachtstraße Unter den Linden und wollten es in Schutt und Asche legen, was im letzten Moment durch besonnene Revolutionäre verhindert wurde, die das Haus demonstrativ im Namen des Volkes besetzten, ein Schild anbrachten, auf dem »Nationaleigentum« zu lesen stand, die Menge damit beruhigten und das Palais so vor der Zerstörung schützten.¹

Fast auf den Tag genau 40 Jahre später strömten erneut zahllose Menschen zu Wilhelms Palais.

Doch diesmal wurden sie nicht von Wut angetrieben, sondern von Sorge um das Leben des einst so verhassten Thronfolgers. Wilhelm I., seit 1871 Deutscher Kaiser, war ernstlich erkrankt. Dass es mit dem Leben des 90 Jahre alten Monarchen nun zu Ende gehen sollte, konnten und wollten sich viele Menschen nicht vorstellen. Und als er dann am 9. März 1888 tatsächlich starb, verbreitete sich Trauer in Berlin, die tief empfunden wurde.² Dass man ihn vor 40 Jahren den »Kartätschenprinz« genannt und seine vermeintlich gewalttätige Rolle beim Ausbruch der Revolution 1848 hitzig verurteilt hatte, war längst vergessen. Millionen von Deutschen galt er mittlerweile als überzeugender pater patriae, als eine zwar ehrfurchtgebietende Respektsperson, dem viele aber auch väterliche Güte zuschrieben.

Dieser krasse Beliebtheitsunterschied zwischen März 1848 und März 1888 war in gewisser Hinsicht symptomatisch für Wilhelm I. Im Lauf seines langen Lebens schwankte seine Popularität mehrfach außerordentlich heftig. Erst mit über 70 Jahren gelang es ihm, wirklich stabile Beliebtheit zu erlangen. Er war fraglos ein politischer Akteur, der bei den Menschen Emotionen weckte.

In allgemeingeschichtlichen Darstellungen wurde und wird Wilhelm I. zumeist trotzdem nur als eine Randfigur preußisch-deutscher Geschichte dargestellt – und das, obwohl er 30 Jahre über Preußen herrschte (zunächst als Stellvertreter des Königs, dann als Prinzregent und schließlich, ab 1861, als König) und davon 17 Jahre lang auch Deutscher Kaiser war.

Gegensätzlichkeiten wie diese waren es, die mich neugierig auf Wilhelm I. machten.

Fortsetzung folgt…

 

Robert-Tarek Fischer ist promovierter Historiker. Er verfasste mehrere Publikationen zur Geschichte des Mittelalters sowie zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und ist seit vielen Jahren im österreichischen Bundeskanzleramt tätig. Letztes Jahr erschien seine Biographie »Richard I. Löwenherz. Ikone des Mittelalters« in neuer Auflage. Zum Jubiläum der Deutschen Reichsgründung von 1871 wendet er sich in seinem neuen Buch »Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser« einer oft unterschätzten Figur der deutschen Geschichte zu.

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¹ Boerner, Paul: Erinnerungen eines Revolutionärs. Skizzen aus dem Jahre 1848, 2 Bände, Leipzig 1920, hier: II, S. 197-200, 207-208; Haenchen, Karl: Flucht und Rückkehr des Prinzen von Preußen im Jahre 1848, in: Historische Zeitschrift 154 (1936), S. 32-95, hier: S. 52-53, 82

² »Am achten März gegen Abend verbreitete sich ein Gerücht, das Ende Seiner Majestät sei eingetreten. Dann wurde es widerrufen. Am neunten morgens ging ich auf die Straße, um etwas zu hören. Als ich die Pferdebahn bestieg, wußte ich plötzlich: es war geschehen. Verweinte Augen, grenzenlos bestürzte Gesichter – leises trauriges Flüstern zwischen Unbekannten – schwarze Kleider bei den Frauen, schwarze Schleier um die Hüte gelegt, schwarze Binden um die Arme der Männer. Ich stieg aus, auch mir ein solches Zeichen der Trauer kaufen, es wäre unmöglich gewesen, im hellen Mantel durch diese Menge der Leidtragenden zu gehen“, schrieb die junge Schriftstellerin Gabriele Reuter über die Reaktionen, die der Tod des Kaisers in Berlin hervorrief (Reuter, Gabriele: Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend, Berlin 1921, S. 381).

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