Sozialwirtschaft – was ist das?

Sozial und Wirtschaft, geht das eigentlich zusammen? Wenn ja, wie und welche Herausforderungen stellen sich in diesem Handlungsfeld für die berufs- und arbeitsfeldbezogene Beratung?

Das Handlungsfeld der Sozialwirtschaft ist hoch komplex und von widersprüchlichen Regulationsprinzipien gekennzeichnet! VUKA-Welt war hier schon immer. Unbeständigkeit der politischen und finanziellen Rahmenbedingungen, Ungewissheit über Ursachen der zu bearbeitenden Problemlagen, Komplexität der Problemlagen und der beteiligten Hilfssysteme sowie die Mehrdeutigkeit der Wirkungen und Nebenwirkungen bisheriger und geplanter Lösungsstrategien gehören ebenso zum Berufsalltag der Mitarbeitenden wie wiederholt auftretende Konflikte widersprüchlicher Aufträge beteiligter Akteure. Beratung in diesem Handlungsfeld soll und kann dazu beitragen, in politischen, ökonomischen, sozialen und ethischen Konfliktlagen und Handlungsdilemmata professionell vertretbare Handlungsstrategien zu entwickeln.

Die Sozialwirtschaft ist ein intermediäres und hybrides Funktionssystem, in dem soziale Fragen und Probleme mit gemeinwohlorientierten Zielen nach ökonomischen, sozialen, politischen und zivilgesellschaftlichen Prinzipien bearbeitet werden (Evers/Ebert 2010; Wendt 2015). In diesem Wohlfahrtsmix werden sehr unterschiedliche und teilweise auch gegensätzliche Regulationsprinzipien der Wohlfahrtsproduktion zusammengeführt. Für Mitarbeitende, Kunden, KlientInnen und Beratende erscheint die Sozialwirtschaft jedoch oft wie ein Orchester, in dem man nicht immer genau weiß, wer und viele gerade dirigieren. In der Sozialwirtschaft konkurrieren und kooperieren gemeinschaftsbezogene, sozialstaatsbezogene sowie markt- und betriebswirtschaftliche Elemente miteinander. Manchmal ist es Free Jazz, manchmal auch nur Kakophonie. Gut kombiniert hat dieser intermediäre Bereich der Wohlfahrtsproduktion mit seinen sozialen, personenbezogenen Dienstleistungen aber auch Vorteile. Dieser Bereich moderner Gesellschaften gehört zu dem am stärksten wachsenden Arbeitsmarkt.

So beruht das primäre Organisationsprinzip von Gemeinschaft auf Kooperation. Demgegenüber ist Konkurrenz Leitprinzip des Marktes. Der Sozialstaat gewährt soziale, personenbezogene Dienstleistungen auf Basis eines verfassungsgemäßen Auftrages zur Daseinsvorsorge und -fürsorge. Auf Gesetzgrundlage soll für Chancengleichheit, sozialen Ausgleich und Schutz vor sozialen Risiken gesorgt sein.

In Gemeinschaften ist Solidarität das primäre Handlungsmotiv. Man hilft sich gegenseitig im Rahmen jeweils individueller Möglichkeiten, ohne Erwartung an eine unmittelbare Gegenleistung nach dem Reziprozitätsprinzip. Marktakteure schließen nach dem Äquivalenzprinzip Verträge mit kaufkräftigen Kunden, damit sie einen Gewinn erzielen können. Der Sozialsaat hingegen soll die öffentliche Ordnung aufrechterhalten sowie für sozialen Ausgleich und Frieden sorgen. Dafür gewährt er Bedürftigen auf der Grundlage eines Rechtsanspruches Leistungen. Die berechtigten Bürger müssen ihre Bedürftigkeit nachweisen. Teilweise verlangen politische Instanzen auch präventive oder resozialisierende Maßnahmen. Manchmal geschieht dies auch gegen den Willen der Adressaten, wie bei den Hilfen zur Erziehung (SGB VIII) oder den Hilfen zur Arbeit (SGB II) (Conen/Ceccin 2018).

Mitglied einer Gemeinschaft wird man entweder durch Geburt (Familie) oder durch Beitritt in eine Wertegemeinschaft. Wenn sich dort nicht ausreichend konform verhalten wird oder die Pflichten als Mitglied nicht erfüllt werden, wird riskiert, ausgeschlossen zu werden. Von sozialstaatlichen Leistungen kann man ausgeschlossen werden, wenn man sich nicht an die mit der Leistungsgewährung verbundenen Regeln und Pflichten hält. Das Ziel von Gemeinschaft besteht häufig darin, gemeinsam möglichst viel Zeit miteinander zu verbringen. Soziale personenbezogene Angebote der Sozialwirtschaft sind darauf ausgerichtet, dass ihre Adressaten mehr Zeit erhalten, um ihre Lebensbedingungen besser selbst zu gestalten. Über den Markt vermittelte Angebote sind dagegen nur dann erfolgreich, wenn sie möglichst viel Geld und damit auch Zeit sparen. Effektivität und Effizienz der Angebote stellen sich in den unterschiedlichen Bereichen ganz unterschiedlich dar.

Die verschiedenen Bereiche generieren zudem ganz unterschiedliche Beziehungen zwischen Leistungsanbietern und Nutzern. In der Gemeinschaft haben wir es in aller Regel mit wertrationalen, zumeist symmetrischen Beziehungen zu tun. Auf dem Markt sind die Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten nur im Idealfall symmetrisch und eher von instrumentellem Charakter. Ökonomische Macht und die Verfügung über tauschbare Ressourcen sind meist sehr ungleich verteilt. So dass bei Gütern, die zum Leben und Überleben als unverzichtbar gelten, besondere Formen der Abhängigkeit bzw. Benachteiligung auftreten können, wenn diese Güter über dem Markt erhältlich sind. Auf ganz andere Art sind die Beziehungen zwischen den Anbietern sozialstaatlicher Leistungen und Bedürftigen oder Nutznießern zumeist asymmetrisch konstruiert. Es gibt meist keinen Verhandlungsspielraum und die Adressaten müssen sich den Regeln anpassen, die von anderen Akteuren, beispielsweise aus Politik oder Verwaltung, gesetzt wurden.

Die Stärken der Gemeinschaft, des freiwilligen sozialen Engagements und von ehrenamtlicher Arbeit liegen darin, dass ihre Leistungen flexibel und informell angeboten werden können. Ihre Schwäche besteht darin, dass sie nicht immer vorhanden und häufig mit starker Sozialkontrolle und Anpassungszwang verbunden sind. Angebote auf dem Markt sind freier zugänglich aber eben auch abhängig von entsprechenden Ressourcen für Tauschgeschäfte. Sozialstaatliche Angebote gelten als zuverlässig verfügbar. Durch ihre hohe Standardisierung sind sie aber auch weniger flexibel und weniger auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten.

Wie reagieren Mitarbeitende auf komplexe und widersprüchliche Anforderungen?

Für die Mitarbeitenden der Sozialwirtschaft stellen diese widersprüchlichen Regulationsprinzipien und Dynamiken sowie die damit verbundenen Verunsicherungen und Ängste eine besondere Herausforderung dar. Für die Mitarbeitenden ist es daher eine Kernkompetenz, mit diesen Stress auslösenden, widersprüchlichen Situationen konstruktiv umgehen zu können, damit sie entscheidungs- und handlungsfähig sind. Diese Herausforderungen sind proaktiv für die Bewältigung ihrer Aufgaben zu nutzen, aufgrund der damit verbundenen Schwierigkeit neigen manche Mitarbeitenden jedoch zu einem defensivem (unproduktivem oder dysfunktionalen) Vermeidungsverhalten (Effinger 2018).

Dieses Vermeidungsverhalten verstehe ich als simplifizierende Form der Komplexitätsreduktion, die einer Bewältigung mehrdeutiger und widersprüchlicher Situationen eher entgegenstehen und zu vermeidbaren Konflikten und Belastungen führen können. Eine solche Bewältigungsstrategie trägt oft mehr zur Aufrechterhaltung als zur Lösung des zu bearbeitenden sozialen Problems bei. Außer als individuelles, biografisch erlerntes Handlungsmuster, die vom vegetativen Nervensystem durch Flucht und Erstarrung (Porges 2017) verstärkt werden, können diese Strategien schlimmstenfalls zur Ausprägung pathologischer Organisationskulturen beitragen.

Ich unterscheide zwei Varianten defensiven Vereidungsverhalten: Zum einen ein rational oder pragmatisch-simplifizierendes Vermeidungsverhalten. Es stellt eine bewusste Reaktion auf eine gegebene, externe Situation dar. Es beruht auf einer simplifizierenden Situationsanalyse, die durch die Filter eigener Motive und Erfahrungen bewertet wird. Dann geht man keinerlei Risiken mehr ein, scheut neue Herausforderungen und beschränkt sich auf das, was man schon kennt. Häufig werden dann unangenehme, aber objektiv vorhandene Realitäten, wie beispielsweise Zwangskontexte, ausgeblendet. Man solidarisiert sich einseitig mit seinen Adressaten, dämonisiert seine „Gegner“ (Omer u.a. 2016), priorisiert normative Orientierungen, die vermeintliche Eindeutigkeit suggerieren, und blendet strukturell gegebene Widersprüche aus.

Zum anderen handelt es sich um ein emotional-simplifizierendes Vermeidungsverhalten. Das sind primär unbewusste, spontane und reflexartige Reaktionen des internen Kontextes auf unübersichtliche, uneindeutige und mit Unsicherheit und Spannungen verbundene Situationen, die Angst und Stress auslösen. Diese Reaktion wird unbewusst durch biografische Muster gesteuert. Typische Merkmale sind beispielsweise stärkeres Auftreten von Ängstlichkeit, ausgeprägtes Harmoniestreben bis hin zu dissoziativen Störungen. Wenn im Prinzip alle zuständig sind kann das bedeuten, dass ich mich nicht (allein) kümmern muss, dass ich meine eigenen Handlungs- und Machtquellen verleugne, mich hinter dem Datenschutz verstecke, mich auf mechanistisches Denken verlasse, Konfrontation vermeide oder „lösungsorientiert“ vorgehe, obwohl mir noch nicht klar ist, worum es geht und ob meine Lösung ein anderes Problem noch verstärkt. Oft anzutreffen ist auch stellvertretendes Deuten, also zu meinen, was für die Adressaten gut und was nicht so gut ist und es kommt zu einer Art von fürsorglicher Enteignung.

Die Entwicklung von Selbstkompetenz als Herausforderung für Beratung in der Sozialwirtschaft

Supervision und Coaching stehen vor der Herausforderung, die Entwicklung produktiver bzw. proaktiver Bewältigungsstrategien von Ungewissheit und Unsicherheit zu fördern und die Selbstkompetenz ihrer Kunden zu stärken. Sie sollen Bewältigungsstrategien reflektieren und helfen Handlungssicherheit in unsicheren Situationen zu entwickeln. Wenn sie dabei die widersprüchlichen Wirkmechanismen in der Sozialwirtschaft übersehen oder vernachlässigen, geraten sie selbst in unsichere Situationen.

Selbstkompetenz ist vor allem Entscheidungskompetenz (Storch/Kuhl 2017). Die Fähigkeit eigene Gedanken und Gefühle in Bezug auf eigene Ziele und produktive Handlungsstrategien hin zu regulieren und von einer Lageorientierung zu einer Handlungsorientierung zu kommen. Dazu gehören u. a.:

Risikokompetenz

Lernen, zwischen berechenbaren Gefahren und nicht berechenbaren zu unterscheiden und zu lernen, nicht nur die Kognition, sondern den ganzen Körper und die Emotion als Organ der Wahrnehmung und Entscheidungsfindung zu nutzen.

Machtkompetenz

Lernen, die eigenen Machtquellen als Ressource zu erkennen und Macht als etwas verstehen, was für die Gestaltung des Sozialen und des Selbst sinnvoll, ethisch sensibel und verantwortungsvoll eingesetzt werden kann.

Humorkompetenz

Lernen, die eigenen Humorquellen zu erkennen und zu verstehen, dass man nicht alles verstehen kann. Ambiguitätsakzeptanz und Ambivalenztoleranz entwickeln, um in Gelassenheit den Umgang mit Mehrdeutigkeiten und Fehlern zu erlernen.

Konfliktkompetenz

Lernen, Abweichungen sowie problematische Handlungs- und Kommunikationsstile mit Humor und Achtsamkeit zu konfrontieren ohne zu verletzen.

 

Defizite in der Aus- und Weiterbildung

In der Ausbildung (Studium) der Sozialen Arbeit und in der Fort- und Weiterbildung zum Beratenden werden die besonderen Dynamiken und Widersprüche des Handlungsfeldes Sozialwirtschaft zu wenig berücksichtigt. Studium und Ausbildung »Soziale Arbeit« konzentrieren sich allenfalls auf das reine Verstehen und Erklären. Sie bereiten auf den Umgang mit diesen Widersprüchen nur mangelhaft vor und überlassen deren Bewältigung der Praxis. Gelegenheiten zur Selbsterfahrung und Aneignung geeigneter Methoden werden kaum noch geschaffen oder externalisiert. Im Bemühen um disziplinäre Aufwertung sind die Studiengänge sind oft zu sehr auf die Forschung fixiert und vernachlässigen dabei professionelle Anforderungen. Die Lücke zwischen Erklärung und Anwendung wird in der sozialarbeitswissenschaftlichen Theorie nur unzureichend geschlossen. Wechselseitige Zuschreibungen, dass sich Studierende nicht für die Theorie und Dozierende nicht für die Praxis interessieren sind die Folge.

Die Fachliteratur zur Beratungswissenschaft und zum Sozialmanagement beleuchten diese Besonderheiten – wenn überhaupt –nur marginal. Die vorhanden Beratungsansätze sind häufig betriebswirtschaftlich oder psychotherapeutisch verkürzt.

 

Dr. Herbert Effinger war bis 2016 Professor für Sozialarbeitswissenschaft/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Dresden. Er ist als Berater (Lehr-)Supervisor/Coach (DGSv) tätig. In seinem aktuellen Buch »Beratung in der Sozialwirtschaft – Ungewissheiten als Chance kreativer Problemlösungstrategien« beschreibt er die Besonderheiten intermediärer und hybrider Organisationen mit ihren gemeinschaftlichen, öffentlichen und kommerziellen Arrangements. Er benennt die widersprüchlichen Bezugspunkte sozialer personenbezogener Dienstleistungen und gibt Orientierungspunkte für Beratungsstrategien in diesem Handlungsfeld.

 

Literatur

  • Conen, M.-L./Ceccin, G. (2018): Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden. Therapie und Beratung mit unmotivierten Klienten in Zwangskontexten. Heidelberg: Cal-Auer
  • Effinger, H. (2018): Beratung in der Sozialwirtschaft. Ungewissheiten als Chance kreativer Problemlösungsstrategien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
  • Evers, A./Ewert, B. (2010): Hybride Organisationen im Bereich sozialer Dienste. In: T. Klatetzki (Hrsg.): Soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen. Soziologische Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag, S. 102-128
  • Omer, H./Alon, N./Schlippe, A. von (2016): Feindbilder. Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
  • Porges, St. W. (2017): Die Polyvagaltheorie und die Suche nach Sicherheit. Lichtenau: G.P. Probst Verlag
  • Wendt, W.R. (2015): Soziale Versorgung bewirtschaften. Studien zur Sozialwirtschaft. Baden-Baden: Nomos
  • Zwack, J./Bossmann, U. (2017): Wege aus beruflichen Zwickmühlen. Navigieren im Dilemma. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

 

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