Systemische Therapie in Deutschland ist in den letzten gut 30 Jahren das Verfahren der Wahl in zahlreichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit… und seit einiger Zeit auch in der kassenfinanzierten psychotherapeutischen Gesundheitsversorgung. Für viele schließt sich damit ein Kreis, denn wo sonst sollte der Platz eines wissenschaftlichen, psychotherapeutischen Verfahrens sein, wenn nicht in der Behandlung von Patientinnen und Patienten in Kliniken und Psychotherapiepraxen.
Sowohl als auch: Systemische Therapie als kassenanerkanntes Psychotherapieverfahren UND als Verfahren in der Sozialen Arbeit
Durch diesen unbestrittenen Erfolg der Systemischen Psychotherapie im Gesundheitssystem rücken nun andere »Spielarten« dieses therapeutischen Ansatzes etwas in den Hintergrund. Dabei verkörpern gerade diese Varianten Systemischer Therapie die langjährige Praxis vieler Systemischer Therapeutinnen und Therapeuten: In Beratungsstellen, in Wohnzimmern, auf der Straße, in Übergangseinrichtungen, in oder nach der Justizvollzugsanstalt, zwischen Tür und Angel und überall dort wo psychosoziale Hilfe schnell und unbürokratisch benötigt wird.
In der Wissenschaft Sozialer Arbeit hat sich hier der Begriff der Klinischen Sozialarbeit etabliert, um eine Behandlung im Rahmen dieser Arbeitsfelder kenntlich zu machen. Es wird von schwer zu erreichenden Adressatinnen und Adressaten gesprochen (»hard to reach«), die nur selten den Weg in die psychotherapeutischen Praxen finden. Doch warum ist dies so? Es scheint so, als seien die Schwellen zur klassischen Psychotherapie für manche Ratsuchende zu hoch …oder passen Menschen mit multiplen Problemlagen – von finanzieller und materieller Not bis zur seelischen Behinderung – mit diesen und vergleichbaren Anliegen einfach nicht zum psychotherapeutischen Versorgungsspektrum der Bundesrepublik? …oder anders herum: Ist bei z.B. hochbelasteten Familien einfach keine Störung mit Krankheitswert aus therapeutischer Sicht zu attestieren und damit vielfach auch kein Zutritt zum Gesundheitssystem möglich?
Gut, dass es unterschiedliche Hilfs- und Behandlungsmöglichkeiten mit verschiedenen Zugangswegen für fast alle Problemkonstellationen gibt. Die Systemische Therapie zeichnet sich dabei dadurch aus, dass sie insbesondere in psychosozialen Fragen die Praxis Sozialer Arbeit bereichert hat und viele Sozialarbeitende mit einer hybriden Identität ausstattete. Oder frei nach Schulz von Thun: »Wie gut arbeitet eigentlich Ihr Inneres Team, wenn Sie gleichzeitig eine gute Sozialarbeiterin und eine gute Systemische Therapeutin in sich tragen?«
Was wird aus der Systemischen Therapie im Sozialwesen?
Was wird nun aus der Systemischen Therapie in diesen vielfältigen Kontexten sozialer Hilfe? Treffen Kinder, Jugendliche, Familien, Pflege-(Eltern), Schwangere, Suchtkranke, geflüchtete Menschen, deren Angehörige usw. in biopsychosozialen Notlagen weiterhin auf systemtherapeutisch geschulte Professionelle? Wie wird sich die Systemische Therapie in Feldern der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten entwickeln, die ja keinen spezifischen Auftrag zur Heilung und Linderung von psychischen Störungen besitzen. Wie werden Systemische Therapeutinnen und Therapeuten in Zukunft aus- und weitergebildet? Wird es überhaupt noch Systemische Therapeutinnen und Therapeuten in Feldern der Sozialen Arbeit geben?
Systemische Therapie at its best: Reflektierte Praxis!
Viele dieser Fragen wird die Zukunft klären. Unbestritten ist jedoch, dass die Vielfalt des systemtherapeutischen Ansatzes insbesondere und auch gerade außerhalb der bundesdeutschen psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen einen kreativen Reichtum hervorgebracht hat, der seinesgleichen sucht. Als Beispiel sei nur an die aufsuchende therapeutische Arbeit mit Familien gedacht. Dabei zu unterscheiden welche spezifische Intervention als Unterstützung, welche als Therapie bezeichnet werden soll, wirkt geradezu müßig. Und dennoch: Es erscheint nicht redlich Soziale Arbeit und Systemische Therapie in einen »Maßnahmentopf« zu werfen oder gar gleichzusetzen. Differenzierungen helfen dabei, das eigene Handeln (neu) zu reflektieren. Bei all dem sollte jedoch nicht vergessen werden. Es geht um die Arbeit mit Menschen …und entscheiden nicht letztlich die Adressatinnen und Adressaten was geholfen hat und vielleicht auch, was therapeutisch wirksam war?
Daher: Lassen Sie uns diesen Schatz an systemtherapeutischen Möglichkeiten in unterschiedlichen Handlungskontexten bergen und einen reflektierenden Blick werfen, auf eine Systemische Therapie jenseits des klassisch medizinischen Paradigmas der Heilung psychischer Krankheiten.
Mathias Berg
Prof. Dr. phil. Mathias Berg, M.A. (Klinisch-therapeutische Soziale Arbeit), Diplom-Sozialpädagoge, Systemischer Therapeut/Familientherapeut (DGSF, SG), Lehrender für Systemische Therapie und Beratung (DGSF), ist Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Aachen. Er arbeitet weiterhin in eigener Praxis in Köln, ist Lehrender am Kölner Institut für Systemische Beratung und Therapie (KIS), Vorstandsvorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung NRW und Vorstandsmitglied der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). Gemeinsam mit Tanja Kuhnert hat Mathias Berg jüngst das Buch »Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags« herausgegeben, das sich mit Systemtherapeutischen Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten beschäftigt.