Vor 100 Jahren – am 24. Juni 1920 – trat der erste Reichstag der Weimarer Republik und damit das erste Parlament, das von allen volljährigen Staatsbürgern – Männern wie Frauen – in allgemeinen, freien, unmittelbaren, gleichen und geheimen Wahlen gewählt wurde, zusammen. Philipp Austermann, Autor von »Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments«, spricht im Interview über die Geschichte dieses Parlaments und die Chancen und Risiken des jungen Parlamentarismus, der sich in dem besonderen Spannungsverhältnis der jungen Weimarer Republik mit den Altlasten des Kaiserreichs und des verlorenen Weltkriegs wiederfand, bis zur Entmachtung des Reichstages zu Beginn der 1930er Jahre. Dabei ist stets vor Augen zu halten, dass der Weimarer Reichstag ein gesellschaftlicher Spiegel der Weimarer Republik ist.
Dass dem Weimarer Reichstag schon allein als dem Parlament der ersten deutschen parlamentarischen Demokratie eine herausragende Rolle zufällt, steht gar nicht mehr zur Diskussion. Doch was macht den Weimarer Reichstag darüber hinaus zu einem besonderen Parlament?
Philipp Austermann (PA): Der Weimarer Reichstag hatte ganz besondere Herausforderungen zu bestehen – deutlich größere, als ein anderes deutsches Parlament bis heute. Auch im weltweiten Maßstab war er im 20. Jahrhundert sicherlich eine der am meisten geforderten Volksvertretungen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich die junge Weimarer Republik bis 1924 durchgehend im Krisenmodus befand, wie ist dies konkret zu verstehen?
PA: Die Republik entstand in den unruhigen Zeiten nach dem Sturz der Monarchie. Sie wurde von Beginn an von vielen Menschen, bis hinein in Behörden, abgelehnt und angefeindet. Immer wieder kam es zu kommunistischen Aufständen sowie zu monarchistischen oder rechtsextremen Putschversuchen. Führende demokratische Politiker wurden ermordet. Die wirtschaftliche Lage war schwierig bis katastrophal. Die Hyperinflation von 1923 vernichtete viele private Vermögen. Zugleich war die Regierungsbildung schwierig. Die staatstragenden Parteien SPD, Zentrum und DDP hatten schon bei der ersten Reichstagswahl 1920 ihre noch 1919 errungene Mehrheit wieder verloren. Allein von Juni 1920 bis Dezember 1923 amtierten sieben (!) Reichskanzler.
Kann man in diesem Krisenmodus überhaupt von einem regulären parlamentarischen Alltag im Weimarer Reichstag sprechen?
PA: Erstaunlicherweise ja. Allerdings nur bis Juli 1930 – und mit der Einschränkung, dass die Abgeordneten republikfeindlicher Parteien den Sitzungsbetrieb immer wieder erheblich störten. In den 1920er Jahren waren sie allerdings nicht erfolgreich. Es gelang der Reichsregierung und der Reichstagsmehrheit, ihre politischen Vorhaben gegen den Widerstand der Demokratiefeinde durchzusetzen. Regierungen scheiterten bis 1930 an inneren Zwistigkeiten der Koalitionspartner, aber nicht am Verhalten der Antidemokraten.
In Ihrem Buch erscheint der Juli 1930 als eine maßgebliche Zäsur für den Parlamentarismus der Weimarer Republik, inwiefern ändern sich die Voraussetzungen und die Rahmenbedingungen für den Parlamentarismus mit dem Juli 1930?
PA: Die Zäsur war der 18. Juli 1930. An diesem Tag löste Reichspräsident Hindenburg den Reichstag auf. Die Reichstagwahl stärkte die politischen Ränder, vor allem die NSDAP. Die Reichsregierungen regierten fast ausschließlich per präsidialer Notverordnung. Die Zahl der Notverordnungen überstieg bald die Zahl der vom Reichstag beschlossenen Gesetze. Das Parlament vertagte sich immer wieder für längere Zeit – und wurde im Jahr 1932 sogar zweimal aufgelöst. Die Erwartungen des Reichspräsidenten, seines Umfelds und der Regierungen, die Neuwahlen würden ihren autoritären Kurs belohnen, wurden aber enttäuscht. Nur die Republikfeinde NSDAP und KPD profitierten. Schließlich hatten sie die Mehrheit der Reichstagssitze inne und konnten alles blockieren.
Der Zäsur im Juli 1930 folgt schließlich die schrittweise politische Entmachtung des Reichstages im Jahr 1933, die im Ermächtigungsgesetz gipfelte. Sie schreiben, dass mit der Wahl zum 8. Weimarer Reichstag die Weimarer Republik per se als politisches System abgewählt wurde. Wie ist in dieser Wahl das Scheitern des Weimarer Parlamentarismus zu erkennen?
PA: Die Ergebnisse waren schon bei den Reichstagwahlen im Juli und November 1932 für die Demokraten verheerend verlaufen. Die SPD verlor mit jeder Wahl Stimmen, die katholischen Parteien verharrten gemeinsam auf einem Niveau deutlich unter 20 %, die liberalen Parteien waren regelrecht pulverisiert worden. Die 8. Reichstagswahl im März 1933 verschärfte diese Entwicklung. Die NSDAP und ihre rechte Koalitionspartnerin DNVP gewannen rund 52 %, die KPD etwas mehr als 12 %. Nahezu zwei Drittel wählten antiparlamentarische und demokratiefeindliche Parteien. Zu diesem Ergebnis trug zum einen sicherlich bei, dass die Regierung Hitler den Wahlkampf der demokratischen Parteien massiv behinderte. Zum anderen zeigt das Wahlergebnis, wie viele Menschen sich von der Weimarer Republik ab- und totalitären Gedanken zuwandten. Mit der Republik scheiterte auch ihr Parlament. Im „Dritten Reich“ war der Reichstag nur noch ein Scheinparlament.
Prof. Dr. Philipp Austermann ist promovierter Jurist und Professor für Staats- und Europarecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Zuvor war er zwölf Jahre als Referent in der Bundestagsverwaltung tätig. Er hat mehrere Veröffentlichungen zum Verfassungsrecht, darunter einen Kommentar zum Abgeordnetengesetz sowie ein Lehrbuch zum Parlamentsrecht verfasst.
© Vandenhoeck & Ruprecht Verlage. Das Interview wurde von Stefan Lemke schriftlich geführt und ist freigegeben für Ihre Presseberichterstattung. Bitte senden Sie nach Veröffentlichung einen Beleg an presse@v-r.de. Danke!