»Kommen, um zu bleiben?« – Systemisch zum erfolgreichen Onboarding

Die Arbeits- wie die Unternehmenswelt hat sich in den letzten Jahren massiv verändert und unterläuft – auch abgesehen von den Auswirkungen durch Covid19 – noch immer einen umfassenden Wandel: Besonders offensichtliche Folgen sind die gestiegene berufliche Mobilität sowie eine hohe personelle Fluktuation. Helga Brüggemann, systemische Beraterin und Autorin von »Kommen, um zu bleiben. Systemisches Handgepäck für ein erfolgreiches Onboarding«, spricht im Interview über Chancen, Möglichkeiten und Risiken im Onboarding-Prozess sowohl aus Perspektive des aufnehmenden Unternehmens als auch aus Sicht der neuen Führungskraft.

Wie wirken sich die weitgreifenden veränderten Bedingungen des Arbeitsmarktes und der Unternehmenswelt auf den Onboarding-Prozess aus?

Helga Brüggemann: Berufsbiografien werden bunter, sie sind durch mehr Kontextwechsel geprägt. Unter Kontextwechsel verstehe ich sowohl den Übergang vom Studium in den Beruf, als auch interne Versetzungen, den Wechsel zu einem anderem Unternehmen und den Phasenübergang bei einem Merger. Diese Veränderung bringt für beide Seiten Chancen und Risiken mit sich. Das Buch ist aus beiden Perspektiven geschrieben, die Führungskräftesicht ist grün und die Unternehmenssicht ist blau hervorgehoben. Bleiben wir auch hier bei dieser Systematik:

Führungskräfte haben die Chance, im Laufe ihres Berufslebens unterschiedliche Unternehmenskulturen kennen zu lernen. Sie können immer besser herausfinden, welche Kultur am besten zu ihrer Persönlichkeit passt. Auf der anderen Seite steht das Risiko, weil jeder Wechsel die Gefahr des Scheiterns in sich birgt. Dieses Risiko der fehlenden Passung kann durch einen Abgleich von dem, was die Führungskraft mitbringt und wohin sie sich entwickeln möchte, und dem, was das Unternehmen sucht und welche Entwicklungschancen es bieten kann, abgemildert werden.

Unternehmen sind gefordert, die Integration insbesondere auf kultureller Ebene professionell zu begleiten. Standardisierte Onboarding-Prozesse zur fachlichen Einarbeitung sind in vielen Unternehmen schon lange selbstverständlich. Was sich durch den von Ihnen erwähnten umfassenden Wandel verändert, ist meines Erachtens einmal das Tempo, das durch kürzere Verweildauern in Unternehmen entsteht. Zum anderen verschärft sich der Wettbewerb unter den Unternehmen. Qualifizierte Führungskräfte haben die Wahl, für wen sie arbeiten wollen. Früher waren die Identifikationsmöglichkeit mit den Produkten, soziale Leistungen oder das Gehalt wichtige Faktoren, um hier drei Beispiele zu nennen. Das ist oft auch heute noch von Interesse, darüber hinaus wird die kulturelle Dimension immer mehr das Zünglein an der Waage. Wie gut und schnell gelingt es, die Führungskraft mit der neuen Unternehmenskultur vertraut zu machen und gleichzeitig ihren distanzierten Außenblick wertschätzend willkommen zu heißen? Mit dieser Frage steht und fällt eine gelungene Integration.

 

Ihr Buch richtet sich sowohl an aufnehmende Unternehmen als auch an neue Führungskräfte, daraus kann man ableiten, dass Onboarding für Sie ein Prozess ist, der beiden Seiten angegangen werden muss. Wieso kann Onboarding keine Einbahnstraße sein?

HB:
Onboarding verstehe ich als dynamisches Wechselspiel der beteiligten Personen. Damit die Summe mehr ist als die Addition ihrer Teile, müssen beide Seiten ihren Beitrag leisten. Sowohl die neue Führungskraft als auch das Unternehmen sollten gut vorbereitet sein. In dem Buch nutze ich zur Veranschaulichung die Analogie eines Sekundenklebers. Nach Vertragsunterzeichnung werden beide Teile vorsichtig zusammengeführt und dann in der Probezeit kraftvoll verbunden, damit die Verbindung hält. Damit nicht die eigenen Finger verkleben, sondern dort zusammengeklebt wird, wo etwas zusammengefügt werden soll, braucht es Aufmerksamkeit und gezielten Energieeinsatz. In unserer Analogie muss dieser von beiden Seiten aufgebracht werden. Ist eine Seite nicht aufgerauht, sondern noch von Reststoffen verunreinigt, erschwert diese Altlast das Zusammenfügen und erhöht die Gefahr des Auseinanderfallens.

In dieser Analogie können Reststoffe auf Unternehmensseite Vorgänger sein, die noch von außen Einfluss nehmen oder noch Teil des Systems sind, wenn die neue Führungskraft die Arbeit aufnimmt.

Auf Neueinsteigerseite kann es noch die Verbundenheit mit dem ehemaligen Arbeitgeber sein, die in ihm wirkt, oder die Wehmut, die Autonomie des Studentendaseins oder der Selbstständigkeit aufgeben zu müssen.

Damit der Klebstoff hält, braucht es von beiden Seiten Vorarbeit, bevor die neue Führungskraft den ersten Tag am Schreibtisch sitzt. Die meiste Vorarbeit erfolgt mental, indem das Alte losgelassen und Platz für das Neue geschaffen wird. Beide Seiten sind hier gleichermaßen gefordert.

 

Daran anknüpfend: Wie muss ein gelungener Onboarding-Prozess aus Unternehmensicht angegangen werden?

HB: Neben der fachlichen Einarbeitung und einer möglichst schnellen Herstellung der Arbeitsfähigkeit sollte die kulturelle Dimension der Integration besonders berücksichtigt werden. Das ist leichter gesagt, als getan. Viele Unternehmen stehen unter enormem Veränderungsdruck. Oft werden die zur Verfügung stehenden Ressourcen für den operativen Arbeitsalltag aufgebraucht. Die Integration ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie erfordert nicht nur eine zeitliche Investition, sondern auch die Bereitschaft, die Impulse der neuen Mitarbeiterin aufnehmen zu können und nicht als störend zu empfinden. Im Idealfall schafft ein Unternehmen einen Dialograum, der es erlaubt, in einen konstruktiven Aushandlungsprozess von Erneuern und Bewahren zu gehen. Formalisierte Rückmeldegespräche, ritualisierte Mentorinnengespräche, Patenschaften, gezielt herbeigeführter Erfahrungsaustausch zwischen Mitarbeitenden, die schon länger Teil des Unternehmens sind und neuen Mitarbeitenden, eine gebündelte Rückspiegelung von Optimierungsmöglichkeiten an die Geschäftsleitung – dies sind Beispiele für Dialogräume, die großes, oft unausgeschöpftes Innovationspotenzial bergen. In diesen Dialogräumen ist es möglich auszuhandeln, wie Ideen und Impulse der neuen Führungskraft so aufgenommen werden können, dass es zu der Unternehmenkultur passt. Sie wirken als Erlauber, Gewohntes in Frage zu stellen, ohne die Identität des Unternehmens grundsätzlich in Frage zu stellen.

…und wie aus der Sicht einer neuen Führungskraft?

HB: Ein entscheidender Punkt für das Gelingen liegt ganz am Anfang des Prozesses. Weiß die Führungskraft um ihre Stärken und kulturelle Prägung, kann sie den Kreis potenzieller Arbeitgeber von vorneherein einkreisen. Die Managementtechnik eines Unternehmens beispielsweise kann ein guter Indikator für die zu erwartende Kultur sein. Je nach Persönlichkeit und Prägung ist die zu erwartende Passung in einem kollegial geführten Start-up anders, als in einem familiengeführten Unternehmen oder einem aktiengeführten Großkonzern. Vor diesem Hintergrund scheitern meines Erachtens viele Merger. Durch die Integration verändert sich das Managementsystem in einem Maße, dass es nicht mehr zu dem passt, wofür die Führungskraft angetreten ist und wofür sie steht.

Während der Einarbeitungszeit ist die Kenntnis des informellen Regelsystems von enormem Wert. In einem hierarchischen Unternehmen ist es von entscheidender Bedeutung schnell herauszufinden, auf welchem Wege Entscheidungen getroffen werden, was belohnt wird und welchen Handlungsspielraum es gibt. Die Störung der „Ordnung“, in diesem Fall als unautorisiertes Fällen von Entscheidungen gemeint, ist einer der häufigsten Gründe für das Scheitern in Großorganisationen.
In einem kollegial geführten kleineren Unternehmen gilt es schnell herauszufinden, wie der eigene Beitrag zum Unternehmenserfolg aussehen kann. Wer einen Beitrag zur Wertschöpfung des Unternehmens beitragen kann, wird viel Ansehen genießen. Wer sein Team nicht bei der Zielerreichung unterstützt, verliert es.

 

Was meinen Sie, wenn Sie von einem systemischen Handgepäck für erfolgreiches Onboarding sprechen?

HB: Unter systemischem Handgepäck verstehe ich alle Tools und Techniken, die den Onboarding-Beteiligten helfen können, den Prozess bewusst zu planen und zu begleiten.
Jedes Handgepäck ist anders bestückt, je nachdem, auf welcher Ebene am meisten Handlungsbedarf besteht. In dem Buch werden vier Ebenen unterschieden, die Ebenen der Persönlichkeit (1.), der Kultur (2.), des Verhaltens (3.) und der Strukturen (4.).
Zur Auswahl stehen verschiedene Verfahren: auf Personenebene eines zur Analyse der Persönlichkeitspräferenzen, die in dem Onboarding aufeinander treffen; auf kultureller Ebene eine Technik, die voraussichtliche Passung einzuschätzen, eine Anleitung das Regelsystem zu entschlüsseln und ein Modell Beziehungsdynamiken zu analysieren; auf Verhaltensebene ein Portfolio, um der Aufmerksamkeitsfossierung auf die Spur zu kommen; und schließlich auf struktureller Ebene eine Visualisierungstechnik, um Beziehungsstrukturen von außen betrachten zu können, und ein Seismograf für Störungsprävention.
Das individuell zusammengestellte systemische Handgepäck ist so unterschiedlich wie seine Träger.


Wo liegen die systemischen Potenziale für den Onboarding-Prozess und darüber hinaus?

HB: Aus meiner Sicht birgt der Onboarding-Prozess das Potenzial, eine Metakompetenz zu entwickeln. Unter Metakompetenz verstehe ich eine dynamische Fähigkeit, sich veränderten Umfeldbedingungen fortlaufend anzupassen.In dem Onboarding-Prozess kann etwas gelernt werden, das über den speziellen Firmenwechsel weit hinaus geht. Kontextwechsel begleiten uns ein Leben lang. Wer diese Übergangsphasen heranzoomt, reflektiert und sich seiner Lösungsstrategien bewusst wird, kann die individuelle Berufsbiografie bewusst gestalten und an den eigenen Lebenszielen und Werten ausrichten.
Onboardingphasen bewusst zu durchlaufen und mit Hilfe des systemischen Handgepäcks fortlaufend zu reflektieren, fördert fortlaufende Persönlichkeitsentwicklung und Systemkompetenz. Darin sehe ich das systemische Potenzial, das über den einzelnen Onboarding-Prozess hinaus geht.

 

© Vandenhoeck & Ruprecht Verlage. Das Interview wurde von Stefan Lemke schriftlich geführt und ist freigegeben für Ihre Presseberichterstattung. Bitte senden Sie nach Veröffentlichung einen Beleg an presse@v-r.de. Danke!

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