Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser – Teil 1: Flucht aus Berlin

Im Januar 2021 jährt sich die Gründung des Deutschen Reiches zum 150. Mal. Kaiser Wilhelm I. steht zumeist im historischen Schatten seines ambitionierten Kanzlers Otto von Bismarck, der als treibende Kraft hinter der Reichseinigung gesehen wird. Dennoch hinterließ Wilhelm in der Geschichte tiefere Fußspuren als weithin angenommen. Robert-Tarek Fischer zeichnet nun in seiner Biographie »Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser« ein neues Bild des bislang unterschätzten ersten Deutschen Kaisers. Die dazugehörige Blogreihe führt uns einige der bedeutendsten Momente aus dem Leben Wilhelms I. auf spannende Weise vor Augen und veranschaulicht zudem einige Herausforderungen, die sich beim Verfassen dieser Biografie ergaben.

 

An einem Märztag des Jahres 1848 hetzte ein Mann durch die Prignitzer Heide im Nordwesten Brandenburgs.

Es war ein heiterer Tag, die Sonne schien, der Frühling lag in der Luft. Doch darauf achtete der groß gewachsene, kräftig gebaute Mann nicht. Für ihn zählte jetzt nur, rasch von der Hamburger Chaussee wegzukommen. Denn auf der Landstraße näherten sich Reiter, und er fürchtete, sie könnten auf der Jagd nach ihm sein. Daher floh er nun querfeldein weiter, watete durch sumpfige Wiesen, stieg über Hecken und Gräben, ließ die Landstraße immer weiter hinter sich, erreichte schließlich das kleine Dörfchen Quitzow. In seiner Not eilte er zum Dorfpfarrer Johann Nicolaus Behrens und bat ihn um Hilfe.¹

Behrens dürfte einigermaßen verblüfft über seinen unerwarteten Besucher gewesen sein. Denn vor ihm stand kein Geringerer als Prinz Wilhelm, der Thronfolger des Königreichs Preußen, der erste Soldat der Hohenzollernmonarchie, der zweitälteste Sohn der berühmten Königin Luise von Preußen, ein höchst prominenter Mann, der bis vor wenigen Tagen auch noch äußerst mächtig gewesen war.

Nun jedoch brauchte der 51jährige Kronprinz jede Unterstützung, die er kriegen konnte. Wenige Tage zuvor war in Berlin die Revolution ausgebrochen. Wegen der gewalttätigen Rolle, die Wilhelm dabei angeblich gespielt hatte, galt er als reaktionärer Volksfeind. Seine Funktion als langjähriger Kommandant des im Volk besonders unbeliebten Gardekorps hatte seine Beliebtheitswerte noch weiter in den Keller gedrückt. Im März 1848 war Prinz Wilhelm in Berlin dermaßen verhasst, dass er mit dem Schlimmsten rechnete, wenn seine geplante Flucht nach England misslang. In seiner Verzweiflung wusste er in diesen Momenten nur eines: Sollten aufgebrachte Bürger ihn stellen, würde er sich bis aufs Blut wehren. Lebendig wollte er sich von triumphierenden Revolutionären nicht nach Berlin »schleppen lassen«.²

Angespannt wartete der Thronfolger auf die Reaktion des Dorfpfarrers. Würde Behrens ihm helfen? Mit Sicherheit konnte er das nicht wissen. Denn seine vermeintlich finstere Rolle beim Ausbruch der Revolution hatte sich schon weit über die Grenzen Berlins hinaus herumgesprochen und wurde auch bereits in den Gasthäusern im Nordwesten Brandenburgs hitzig debattiert. Und außerdem: Würde Behrens ihm überhaupt glauben, dass er tatsächlich der Thronfolger Preußens und nicht irgendein Hochstapler oder Wirrkopf war?

Doch Prinz Wilhelm hatte Glück. Behrens glaubte ihm nicht nur, sondern zeigte sich auch sofort zur Hilfe bereit. Eilig spannte der Pfarrer seinen Wagen an und fuhr den Thronfolger über abgelegene Feld- und Waldwege weiter nach Nordwesten, bis nach Grabow.³

Wilhelm war Behrens für die Hilfe zutiefst dankbar. Monate später schrieb er ihm: »Die Dankbarkeit an die Bereitwilligkeit, mit welcher Sie mir am 23. März d. J. beistanden, wird nie in meinem Herzen erlöschen, und niemals werde ich den prüfenden Blick vergessen, mit welchem Sie mich ansahen, als ich ungekannt zu Ihnen ins Zimmer trat, und Sie mir dennoch sofort Glauben schenkten, als ich mich nannte. Die Erinnerung und das Andenken an Ihre Tat wünsche ich bei Ihnen zu erhalten, und zu dem Ende sende ich Ihnen meine Büste, bei deren Anblick Sie sich erinnern mögen Ihres dankbaren Prinzen von Preußen.«⁴

Dank Behrens hatte Prinz Wilhelm eine besonders heikle Fluchtetappe unbeschadet bewältigt. Sein Spießrutenlauf nach England war damit allerdings noch längst nicht beendet.

Als der Thronfolger wenig später mit zwei Fluchthelfern – einem Offizier und einem Kammerdiener – den Versuch unternahm, von Hagenow mit der Eisenbahn bis nach Hamburg zu gelangen, riet ihm ein Preuße dringend davon ab, mit dem Zug tatsächlich bis nach Hamburg zu fahren. Denn auch dort herrsche mittlerweile helle Aufregung. Tausende Menschen würden dort jeden aus Berlin kommenden Zug erwarten, um dem Thronfolger einen heißen Empfang zu bereiten. Wilhelm stieg daraufhin bereits in Bergedorf aus, schlich sich bei Nacht und Nebel in Hamburg ein und verbrachte im Haus eines preußischen Diplomaten seine vorläufig letzten Stunden auf deutschem Boden. Am Abend des 24. März ging er mit seinen Begleitern an Bord eines britischen Dampfschiffs und verbarg sich während der Überfahrt nach London in seiner Kajüte.⁵ Kurz zuvor hatte er in Briefen an seine Schwester Charlotte und seinen Bruder, König Friedrich Wilhelm IV., noch geschrieben, dass er »wie vernichtet« sei und »einer fürchterlich ungewissen Zukunft« entgegensehe.⁶ 

Letzteres war nicht übertrieben. Denn ob der gefallene Thronfolger jemals wieder nach Preußen würde zurückkehren können, lag in den Sternen, als er über den Ärmelkanal floh.

Wohl niemand hätte damals geahnt, dass Prinz Wilhelm höher als jeder Hohenzoller vor ihm emporsteigen würde und als Kaiser Wilhelm I. bei Millionen von Deutschen beträchtliche Popularität erlangen sollte.

Fortsetzung folgt…

 

Robert-Tarek Fischer ist promovierter Historiker. Er verfasste mehrere Publikationen zur Geschichte des Mittelalters sowie zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und ist seit vielen Jahren im österreichischen Bundeskanzleramt tätig. Letztes Jahr erschien seine Biographie »Richard I. Löwenherz. Ikone des Mittelalters« in neuer Auflage. Zum Jubiläum der Deutschen Reichsgründung von 1871 wendet er sich in seinem neuen Buch »Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser« einer oft unterschätzten Figur der deutschen Geschichte zu.

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¹ König Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. Briefwechsel 1840-1858. Herausgegeben von Winfried Baumgart, Paderborn-München-Wien-Zürich 2013, S. 177; Oelrichs, August: Ein Bremer rettet den Kaiser. Die Flucht des Prinzen Wilhelm im Jahre 1848 aus Berlin, nach den Erinnerungen von August Oelrichs, herausgegeben von Dieter Leuthold, Bremen 1998, S. 71-72

² Prinz Wilhelm von Preußen an Charlotte. Briefe 1817-1860, herausgegeben von Karl-Heinz Börner, Berlin 1993, S. 293

³ König Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. Briefwechsel 1840-1858, S. 177; Oelrichs, S. 67-70

⁴ Kaiser Wilhelms des Großen Briefe, Reden und Schriften, ausgewählt und erläutert von Ernst Berger, 2 Bände, Berlin 1906, hier: Band 1, S. 190

⁵ Wilhelms Fluchthelfer, der Offizier August Oelrichs, an Unbekannt, 24.03.1848, in: GSPK (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz), VI. HA, NL Preußen, Wilhelm I. von, Nr. 5, n.f.; Oelrichs, S. 73-84; König Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. Briefwechsel 1840-1858, S. 177-178

⁶ Prinz Wilhelm von Preußen an Charlotte, S. 288; König Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. Briefwechsel 1840-1858, S. 179

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