Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser – Teil 3: Von der Faszination, die ein unterschätzter Kaiser ausübt

Ein erster Anflug von Neugier auf Wilhelm I. packte mich bereits gegen Ende meiner Studienzeit. Im Kontext einer Prüfungsarbeit, die sich um die preußisch-deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drehte, arbeitete ich eine längere Literaturliste ab. Beim Studieren der Fachbücher begann ich mich langsam zu wundern, dass Wilhelm I., der 1871 immerhin zum ersten Deutschen Kaiser und damit zum ersten Staatsoberhaupt im vereinigten Deutschland avancierte, in diesen Büchern kaum vorkam. In einem besonders namhaften Werk, das die Geschichte des Deutschen Kaiserreiches behandelte, wurde zu Wilhelm I. – abgesehen von der Kaiserproklamation 1871 – überhaupt nur erwähnt, dass er 1878 bei einem Attentat schwer verletzt wurde und 1888 starb. In Summe blieb vom ersten Kaiser nach dem Durcharbeiten der Fachliteratur ein reichlich schattenhafter Eindruck zurück. Das machte mich stutzig und neugierig zugleich. War Wilhelm I. als historischer Akteur tatsächlich dermaßen unbedeutend, dass es nicht lohnte, auf sein Wirken genauer einzugehen?

Bei dieser Neugier blieb es zunächst. Meine Forschungsarbeit führte mich nach meinem Studium für mehrere Jahre in ein anderes Themengebiet, namentlich zur Nahostpolitik Österreichs bis 1918. Doch mein Interesse an Wilhelm I. ging nie gänzlich verloren, sondern blieb hartnäckig bestehen. Als ich meinen ersten Themenschwerpunkt 2006 mit der Publikation von Österreich im Nahen Osten. Die Großmachtpolitik der Habsburgermonarchie im Arabischen Orient 1633-1918 zu einem vorläufigen Abschluss brachte, meldete sich diese Neugier sofort wieder zu Wort. Wegen einer familiär bedingten Unterbrechung meiner Schriftstellertätigkeit musste ich sie noch einmal abdämpfen. Doch als ich mich in den späten Nuller-Jahren wieder dem Forschen und Schreiben zuwandte, forderte sie fast schon gebieterisch ihr Recht ein.

Motiviert und auch etwas skeptisch machte ich mich an die ersten Recherchen. Skeptisch, weil ich zunächst durchaus nicht sicher war, ob daraus tatsächlich ein Buch entstehen würde, ob Wilhelm I. genug für ein ganzes Buch »hergeben« würde. Zwar verlief sein Leben phasenweise höchst dramatisch (die bereits erwähnte Flucht aus Berlin 1848 war bei weitem nicht die einzige hervorstechende Episode in seinem bewegten Leben), aber wie sah es mit der historischen Relevanz Wilhelms I. denn nun wirklich aus? Seine schattenhafte Präsenz in allgemeingeschichtlichen Darstellungen ließ sich schwerlich ignorieren, hinzu kam der Umstand, dass es damals nur zwei modernere (nach 1945 verfasste) Biografien über Wilhelm I. gab. Beinahe noch wichtiger für mich: Konnte man den bestehenden Darstellungen nennenswerte Dinge hinzufügen? Über einen letztlich doch eher irrelevanten historischen Akteur zu schreiben und dabei ausschließlich Altbekanntes zu erzählen, hätte mich nicht genug interessiert, um den Spannungsbogen bis zum Ende des Projekts aufrechtzuerhalten. Und für einen Autor gibt es wohl kaum etwas Unbefriedigenderes, als mit viel Verve ein Buchprojekt zu beginnen, nur um nach einiger Zeit zu erleben, wie das eigene Interesse daran langsam abbröckelt, unmerklich zunächst, dann immer mehr und mehr, bis das Vorhaben irgendwann versandet.

Relativ bald stellte sich aber heraus, dass ich mit derlei Problemen bei einer Biografie über den ersten Deutschen Kaiser nicht konfrontiert sein würde.

Denn tatsächlich beeinflusste Wilhelm I. die preußisch-deutsche Geschichte in beträchtlichem Ausmaß. Im Lauf seiner langen Herrschaft setzte er auf mehreren Ebenen tiefgreifende Akzente. Manche davon wurden bislang bruchstückhaft dargestellt, andere unterschätzt und deshalb kaum beachtet.

Manche dieser Akzente waren bislang überhaupt unbekannt.

Und gerade das machte die Arbeit an diesem Buch ungemein spannend.

Fortsetzung folgt…

 

Robert-Tarek Fischer ist promovierter Historiker. Er verfasste mehrere Publikationen zur Geschichte des Mittelalters sowie zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und ist seit vielen Jahren im österreichischen Bundeskanzleramt tätig. Letztes Jahr erschien seine Biographie »Richard I. Löwenherz. Ikone des Mittelalters« in neuer Auflage. Zum Jubiläum der Deutschen Reichsgründung von 1871 wendet er sich in seinem neuen Buch »Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser« einer oft unterschätzten Figur der deutschen Geschichte zu.

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