Die Europäische Union wird gerne als eine Wertegemeinschaft und als Friedensprojekt bezeichnet. Diese Begriffe sind neben Solidar- und Wirtschaftsgemeinschaft häufig verwendete Bezeichnungen, die Bereiche adressieren, in denen der EU oft mangelndes Engagement vorgeworfen wird. Die EU stattdessen als eine Verantwortungsgemeinschaft zu denken, trägt dieser Beobachtung Rechnung und ermöglicht einen Zugang aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen¹. Diesen Ansatz haben WissenschaftlerInnen aus Politikwissenschaft, Geschichte und theologischer Ethik im Rahmen eines Zukunftsdiskurses an der Universität Hildesheim verfolgt und konnten die EU in unterschiedlichen Bereichen als Verantwortungsgemeinschaft identifizieren.
'Verantwortung' wird im Bereich des Alltagslebens, der Gesellschaft, der Politik, des Rechts und der Moral gebraucht. Er ist ein mehrstelliger Relationsbegriff, der stets fragt 'wer verantwortet was vor wem?'². Die These für diesen Beitrag lautet:
In der Zeit der COVID-19-Pandemie ist die Europäische Union in besonderer Weise herausgefordert, sich zur Wahrung des europäischen Gemeinwohls, den Sozialprinzipien der Solidarität und der Subsidiarität folgend, als Verantwortungsgemeinschaft zu erweisen.
Was macht eine Verantwortungsgemeinschaft aus?
Was bedeutet es für die Europäische Union, sich als Verantwortungsgemeinschaft zu präsentieren? Mit den grausamen Ereignissen der europäischen Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts im Gedächtnis, lautete der Friedensappell, der durch ein wachsendes europäisches Integrationsprojekt gesichert werden konnte, 'Nie wieder Krieg‘ zwischen den Mitgliedsstaaten der EU³. Längst hat die EU ihren Anspruch über diese pazifistische Dimension hinaus erweitert. Sie sieht sich von einem klaren Wertefundament geleitet und stellt einen hohen Anspruch an sich selbst:
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet. (Art. 2 des EU-Vertrags von Lissabon)
In der Zeit einer globalen Pandemie, wie die WHO die COVID-19 Ausbreitung seit dem 11. März einstuft, haben einige Mitgliedsstaaten der EU bereits die Grenzen ihrer Kapazität im Bereich der Gesundheitsversorgung und der wirtschaftlichen Belastbarkeit überschritten. Andere wiederum haben noch Möglichkeiten zum Handeln, sodass der gemeinsame europäische Wert der Solidarität auf besondere Art und Weise herausgefordert ist.
Solidarität als Pfeiler der europäischen Gemeinschaft
Die Sozialethik bietet eine Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Solidarität. Ausgehend von einem allgemeinen Personenprinzip, das Grundlage für jedes Gemeinwohl und damit Legitimation jeder staatlichen Gewalt ist, wird mithilfe des Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzips zumindest ein Rahmen für das Handeln der EU abgesteckt.
Das Personenprinzip stellt zunächst sicher, dass jedem Menschen aufgrund seiner Person eine unverletzliche Würde und in deren Folge auch die Menschenrechte unantastbar und unteilbar zukommen⁴. Mit diesen Rechten einher geht auch die Pflicht, sich wiederum an diese zu halten und das eigene Handeln zu verantworten.
Mit dem Gemeinwohlprinzip wird sichergestellt, dass innerhalb einer Gesellschaft die Ordnung derart ausgerichtet ist, dass alle Menschen gemäß dem Personenprinzip ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen können: »Die Existenzberechtigung aller öffentlichen Gewalt ruht in der Verwirklichung des Gemeinwohls […]«⁵.
Den Weg zu diesem Gemeinwohl leiten die Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität. Aus der Grunderfahrung des Menschen, dass sich in einer (modernen) Welt das Leben in Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft vollzieht, entfaltet das Solidaritätsprinzip „die wechselseitige Verpflichtung der Gesellschaftsmitglieder […]“⁶. Die Solidarität »ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das »Gemeinwohl« einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind«⁷. Ihren Ausdruck findet sie im solidarischen Handeln.
Neben dem Solidaritätsprinzip steht das Prinzip der Subsidiarität, das zwei grundsätzliche Ansätze verfolgt. Verkürzt formuliert: so viel wie nötig, so wenig wie möglich. Das Prinzip der Subsidiarität setzt an den Rechten und Pflichten des Personenprinzips an, es »hat eine negative Seite (Nichteinmischungsprinzip) und eine positive Seite (Unterstützungsprinzip)«⁸. Die Gesamtgesellschaft muss jeden einzelnen ihrer Teile insofern unterstützen, als dass dieses in die Lage versetzt wird, seine Rechte wahrzunehmen. Die Nichteinmischung trägt der Eigenverantwortlichkeit und den Pflichten Rechnung und fordert, dass die Gesellschaft erst dann und nur so weit eingreift, wenn und wie ihre Teile wirklich Hilfe benötigen.
Der Europäischen Union droht eine Wirtschaftskrise
In vielen Bereichen ist in der Zeit der aktuellen COVID-19-Pandemie ein gebündeltes und strukturiertes Vorgehen notwendig. Neben dem Gesundheitssektor sind Finanz- und Wirtschaftspolitik Bereiche, in denen die EU nun Verantwortung übernehmen muss. Vielerorts und genuin aus den Ländern im europäischen Süden werden Stimmen laut, die in dieser Zeit nicht nur die Solidarität der EU beschwören, sondern bereits vom drohenden Ende derselben sprechen. Betroffene Länder wie Italien oder Spanien fordern nun die Unterstützung der EU:
Die Umstände sind außergewöhnlich und verlangen Entschlossenheit: Entweder sind wir den Umständen gewachsen oder wir scheitern als Union. Dies ist ein kritischer Moment, in dem selbst proeuropäischste Länder und Regierungen wie etwa Spanien Beweise für ein tatsächliches Engagement benötigen. Wir brauchen rigorose Solidarität.(Pedro Sanchez, Spanischer Ministerpräsident)⁹
In den letzten Tagen und Wochen ist in den Nachrichten und auf den Telefonkonferenzen der europäischen MinisterInnen und StaatspräsidentInnen immer wieder ein Thema Grund von Aufregung: gemeinsame europäische Finanzhilfen für die angeschlagenen Staaten in der COVID-19-Pandemie. Die Dynamik der tagespolitischen Auseinandersetzungen und neuen Vorschläge ist so groß, dass eine Beschreibung oder bloß eine Aufzählung von Finanzinstrumenten lediglich eine Momentaufnahme bleiben kann. Zuletzt einigten sich die europäischen RegierungschefInnen in einer Videokonferenz am 23. April auf ein Soforthilfepaket und einen langfristig angelegten »EU Wiederaufbau-Fonds«, dessen Details noch offen sind.¹⁰ Augenscheinlich liegen die Interessen und Auffassungen der Staaten bei diesem Thema nach wie vor deutlich auseinander.
1. Konflikte innerhalb der EU treten wieder deutlich zu Tag
In der Krise wird erneut deutlich, dass erhebliche Differenzen bei der Art und Weise der Bewältigung von Herausforderungen zwischen den 27 Mitgliedsstaaten existieren. Der EU als Gemeinschaft sui generis ist seit ihrer Gründung ein Konflikt zwischen einer nationalstaatlichen und supranationalistischen Auffassung des gemeinsamen Projekts inhärent. Es herrschen unterschiedliche Auffassungen zwischen den Mitgliedsstaaten, wie die Zukunft der europäischen Integration aussehen soll; ob es 'mehr Europa' oder 'weniger Europa' werden soll. Der prominenteste Ausdruck dieses Konflikts ist sicher der anhaltende Streit um den Brexit. Peter Pichler bezeichnet diesen Konflikt aus einer kulturhistorischen Perspektive als »strukturelles Grundrisiko«, das »im möglichen Verlust der in über sechzig Jahren Integrationsgeschichte immer wieder mühsam errungenen »paradoxen Kohärenz« von Nationalismus und Supranationalismus«¹¹ besteht. Erst im Angesicht der Krise entstünden laut Pichler die gemeinsamen Kräfte, die diesen Spalt überwinden könnten¹². Insofern bestehe Verantwortungsübernahme darin, die offenen Spielräume zwischen Nationalismus und Supranationalismus zu nutzen, um in der Krise handlungsfähig zu bleiben und darüber hinaus die europäische Einheit zu wahren¹³.
In diesem Spannungsverhältnis ist eine Differenzierung vorzunehmen, die in der Öffentlichkeit allzu häufig nicht bedacht wird: die EU besteht im Wesentlichen aus ihren Mitgliedsstaaten und nicht aus der europäischen Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen. Die Kommission kann unter Beteiligung des europäischen Parlaments Maßnahmen zur Bewältigung der Krise beschließen und hat bereits einige Förderprogramme umgesetzt. Es sind trotz der unterschiedlichen Vorstellungen über die Ausrichtung des europäischen Integrationsprojekts die Mitgliedsstaaten im Kern der EU, die sich jetzt bewegen und handeln müssen, sodass die folgenden Gedanken die 27 Mitgliedsstaaten adressieren.
2. Wie müssen konkrete Handlungen gestaltet werden?
Aus den oben kurz eingeführten Sozialprinzipien ergeben sich mit Blick auf fiskalpolitische Instrumente handlungsleitende Normen, die zwar keine Finanzpolitik machen, jedoch Hinweise zur Art und Weise derselben bieten können. Die EU hat in ihrem Vertrag von Lissabon die Solidarität als einen ihrer Grundwerte benannt. Die vorangegangene kurze Analyse zeigt auf, dass dieser Anspruch direkt mit einem Appell zum Handeln verbunden ist; Solidarität kommt nicht ohne tätiges Handeln aus. In die Anerkennung des Solidaritätsprinzips ist die Erkenntnis eingewoben, dass alle 'in einem Boot sitzen‘. Diese Erkenntnis präsentieren bereits einige WirtschaftsexpertInnen und PolitikerInnen, zumeist jedoch bisher auf Seiten der vermeintlich 'Hilfsbedürftigen'. Alle Mitgliedsstaaten sollten im Rahmen der Solidarität nun akzeptieren, dass die Anerkennung von internationalen Problemen als europäische kein überengagierter Luxus, sondern vielmehr eine zwangsläufige Notwendigkeit ist. Um diesen grundlegenden Wert der Solidarität in Zeiten der Krise nicht zu verraten, müssen alle Mitgliedsstaaten handeln und gemeinsam tatkräftig unterstützen.
Das Sozialprinzip der Subsidiarität hat eine mahnende Funktion in diesen Zeiten: die EU darf nicht in die sensiblen Bereiche nationaler Politik eingreifen und auf supranationaler Ebene Maßnahmen vorschreiben, die die Eigenheiten der Nationalstaaten missachten und über die Maße hinaus in deren Verantwortlichkeiten eingreifen¹⁴. Gleichwohl müssen die RegierungschefInnen der europäischen Staaten anerkennen, dass sie nach dem Subsidiaritätsprinzip ebenfalls in der Pflicht stehen, ein eigenverantwortliches Handeln von Nationen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten erneut zu ermöglichen.
Die Diskussion um Vor- und Nachteile verschiedener Hilfsoptionen finanzieller Art für angeschlagene EU-Staaten wird momentan täglich geführt. Ohne einen der konkreten Vorschläge, wie sie oben kurz vorgestellt wurden, in seiner wirtschaftspolitischen Wirkung und in seinen Folgen für das Verhältnis der europäischen Staaten beurteilen zu können, zeigt die Sozialethik die Richtung, in die diese Finanzinstrumente wirken müssen. Sie müssen eine konkrete Unterstützung auf Augenhöhe sein, die eine eigenverantwortliche Bewältigung der Krise mit Hilfeleistungen aus der EU wiederherstellt und gemäß dem Prinzip der Subsidiarität so viel wie nötig und so wenig wie möglich in die nationale Souveränität eingreift. Dabei darf nie aus dem Blick geraten, dass die Solidarität als gemeinsamer europäischer Wert in Zeiten der Krise zu verantwortlichem und gemeinsamen Handeln auffordert. Diese Sozialprinzipien von Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität nicht zu vernachlässigen, sondern vorzuleben, das kann die EU zur Zeit der COVID-19-Pandemie zu einer echten Verantwortungsgemeinschaft und einem »Role-Model«¹⁵ machen.
Kai Schinke, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Katholische Theologie der Universität Hildesheim. Gemeinsam mit Michael Gehler und Alexander Merkl hat er das Buch »Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft. Anspruch und Wirklichkeit« herausgegeben, das als Band 12 in der Reihe »Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen« bei Böhlau Wien erschienen ist.
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¹ Gehler, Michael/ Merkl, Alexander/ Schinke, Kai (Hg.), Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft. Anspruch und Wirklichkeit, Wien 2020, S. 14.
² Fritzsche, Andreas, Verantwortung. Anregung des Monats. 2010, https://www.dr-andreas-fritzsche.de/anregung/page/11.
³ Nitschke, Peter, Die EU als Friedens- und Versöhnungsprojekt, in: Michael Gehler/ Alexander Merkl/ Kai Schinke (Hg.), Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft. Anspruch und Wirklichkeit, Wien 2020, S. 128.
⁴ Papst Johannes XXIII., Enzyklika PACEM IN TERRIS. Rundschreiben über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit, Rom 1963, S. 32.
⁵ Papst Johannes XXIII., Enzyklika PACEM IN TERRIS, S. 32.
⁶ Heimbach-Steins, Marianne et al., Orientierung finden. Ethik der Lebensbereiche (Theologische Module 5), Freiburg im Breisgau 2008, 188.
⁷ Papst Johannes Paul II., Enzyklika SOLLICITUDO REI SOCIALIS. Zwanzig Jahre nach der Enzyklika Populorum Progressio (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 82), Rom 1987, S. 38.
⁸ Schrage, Marco, Theologisch-ethische Orientierungen – verbunden mit einem Blick auf Mali, in: Michael Gehler/ Alexander Merkl/ Kai Schinke (Hg.), Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft. Anspruch und Wirklichkeit, Wien 2020, S. 208.
⁹ Sánchez, Pedro, „Europa muss eine Kriegswirtschaft auf die Beine stellen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.04.2020.
¹⁰ Michel, Charles, Conclusions of the President of the European Council following the video conference of the members of the European Council, 23 April 2020, https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2020/04/23/conclusions-by-president-charles-michel-following-the-video-conference-with-members-of-the-european-council-on-23-april-2020/
¹² Pichler, Verantwortung im Rahmen der Europäischen Union als Kulturgemeinschaft, S. 93.
¹³ Pichler, Verantwortung im Rahmen der Europäischen Union als Kulturgemeinschaft, S. 96.
¹⁴ Wiemeyer, Joachim, Jugendarbeitslosigkeit – eine gesamteuropäische Verantwortung, in: Michael Gehler/ Alexander Merkl/ Kai Schinke (Hg.), Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft. Anspruch und Wirklichkeit, Wien 2020, S. 296.
¹⁵ Harnisch, Sebastian/ Vetrovcova, Martina, Globale Verantwortung. Die neue Rolle der Europäischen Union, in: Michael Gehler/ Alexander Merkl/ Kai Schinke (Hg.), Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft. Anspruch und Wirklichkeit, Wien 2020, 375-376.