Ein halbes Jahr »Klassenfoto mit Massenmörder«

Die Arbeit an »Klassenfoto mit Massenmörder« wurde in der Region Peine frühzeitig mit großem Interesse verfolgt. Nach dem Erscheinen erlangte das Buch von Jürgen Gückel dann auch schnell deutschlandweit Aufmerksamkeit. Seit der Veröffentlichung im September 2019 finden regelmäßig Lesungen in ganz Deutschland statt. Mit dem Corona-Lockdown ergab sich für den Autor die Gelegenheit, das letzte halbe Jahr Revue passieren zu lassen. Der folgende Text von Jürgen Gückel erschien ursprünglich am 25.03.2020 in der Peiner Allgemeinen Zeitung (PAZ).

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»Gänsehaut-Momente im Antikriegshaus« – so überschrieb am 20. Oktober eine junge Kollegin ihren Bericht zur Lesungen aus dem gerade erschienenen Buch über den NS-Massenmörder, Bigamisten und falschen Lehrer Artur Wilke. Sie konnte nicht ahnen, wer an diesem Tag die eisigste Gänsehaut zu spüren bekam: der Autor selbst.

Die Lesung war beendet, etliche der gut 80 Zuhörer, darunter viele Peiner und einst selbst Wilke-Schüler, ließen sich ihre Bücher signieren. Ich hatte über die Taten ihres falschen Lehrers gelesen, hatte dessen Kriegsverbrechen beschrieben, darunter auch jene Zeugenaussage, in der Wilke zusammen mit dem Arzt Dr. F. eine Jüdin foltert, quält, sie vermutlich gar mit einer Benzin-Spritze tötet. Zum Schluss der Signierzeit stand eine Frau vor mir, ihr offensichtlich schon gelesenes Buch gespickt mit Zetteln. Sie wollte keine Unterschrift: »Ich bin die Tochter von Dr. F.«

Das war der Moment, vor dem jeder Autor historischer Wahrheiten Angst hat: die Konfrontation mit Angehörigen, die geschockt sind, was sie über ihre Väter, Großväter, Onkel oder Großonkel erfahren. Und die Tochter des folternden Arztes? »Ich bin Ihnen so dankbar, endlich erfahren zu haben, was mein Vater getan hat im Krieg. Ich habe immer nur geahnt, nie gewusst. Es wurde ja alles totgeschwiegen.«

Und dann legt die Tochter des Folterers einen Stapel Fotos auf den Tisch: ihre Eltern vergnügt im Garten des Ehepaares Wilke in Stederdorf, Fotos unbeschwerter Ausflüge beider Familien in den 50er Jahren, und mittendrin die Kinder – die der Wilkes und die des Dr. F. »Das kleine Mädchen da, bin ich«, sagte die heute fast 70-Jährige, »und das ist Onkel Wilke. ,Atzig' hat ihn mein Vater genannt. Der wusste ja genau, dass er nicht der Walter ist, als der er sich ausgab.« Und dann erzählt sie noch, wie ihr und den Geschwistern eingebläut wurde, die Wilkes nicht zu kennen, nie von ihnen gehört zu haben, nachdem der Vater erfahren hatte, dass der Kollege aus Minsker Tagen 1961 verhaftet worden war und vor Gericht gestellt wurde.

Momente wie diese haben das zurückliegende halbe Jahr aufregend gemacht. Mehrere Dutzend Lesungen – sei es im privaten Kreis oder auch vor mehr als 100 Zuhörern in Buchhandlungen, Bibliotheken oder Gedenkstätten – prägten diese Zeit. Dass im Landkreis viele Menschen das Thema wahrnahmen, war vor allem der Peiner Allgemeinen Zeitung zu verdanken, die das Buch über mehr als drei Monate mit einer halben Seite täglich nachdruckte.

Unzählige Reaktionen gab es darauf: Da klingelt an der Tür eine ältere Dame, fragt, wie es den Wilke-Kindern in den USA geht. Sie sei mit ihnen zur Schule gegangen. Da wird man auf dem Markt von wildfremden Menschen angesprochen: »Bei dem hatte ich auch Unterricht« oder »Ich hatte auch so einen Lehrer wie den Wilke.« Gleich mehrere ehemalige Kommilitonen des Wilke-Sohnes sprachen mich an und berichteten, wie sie dem theoretisch hervorragenden Studenten einst durch die praktischen Medizin-Prüfungen halfen: »Er konnte niemanden verletzten, nicht einmal Blut abnehmen – und das als Arzt.« Sie beschrieben dessen »mikroskopisch kleine Schrift – er hat sich in jeder Hinsicht klein gemacht«. Und sie beschrieben dessen Angst vor dem Vater, aber keiner hatte eine Vorstellung, was der Vater ihres Mitstudenten im Krieg für Schuld auf sich geladen hatte. »Das habe ich erst aus dem Buch erfahren – jetzt erst verstehe ich, warum der Sohn sich das Leben nahm«, sagt einer, heute angesehener Orthopäde.

Aus Süddeutschland hat sich eine einstige Sprechstundenhilfe der Wilkes gemeldet. Auch sie wusste nichts über ihren einstigen Chef. Gekündigt habe sie gleich nach der Lehre nur, weil »der anzüglich wurde«. Und sie beschreibt, wie Wilke vor den Augen der Arzthelferin die Welpen seines Pudels erschlagen habe, weil man »die nicht gebrauchen« könne.

Gab es vor der Veröffentlichung des Buches noch Kritik (»Es muss doch mal Schluss sein mit der Nazizeit«), veränderte der Blick auf das, was man bisher nicht wusste – oder nicht wissen wollte – die Reaktionen völlig. Kein einziges negatives Wort über das Ergebnis mehrjähriger Recherche wurde bisher an mich herangetragen. Positive Buchbesprechungen, zahlreiche Presseveröffentlichungen, viele Zuhörer bei Lesungen und sogar die öffentliche Anerkennung durch die Stadt Peine in Form des Bodenstedt-Preises zeugen vom Interesse an dem so lange verdrängten Thema. Von den Verkäufen zu schweigen: Seit Januar gibt es schon die zweite Auflage. Keine Lesung vergeht, in der nicht einer der Zuhörer einen ähnlichen, meist ebenso verschwiegenen, jedenfalls nicht aufgearbeiteten Fall aus der Hitlerzeit berichtet. Und das starke Interesse an der mit Peiner Allgemeiner Zeitung (PAZ) und Landkreis organisierten Diskussionsrunde (»Was geht uns die NS-Zeit heute noch an?«) im Ratsgymnasium spricht für sich.

Und die Wilke-Angehörigen? Ein Teil der Familie schweigt weiter. Für die Kinder aus erster Ehe jedoch sorgte das Buch für eine Familienzusammenführung. Nach nur fünf Wochen meldete sich ein Wilke-Enkel aus den USA – gleich mit fünf Mails, unter anderem an die PAZ und den Peiner Literaturzirkel. Ehe ich dem vom Vater in die USA zur Adoption freigegebenen ältesten Sohn eine englische Übersetzung schickte, habe ich die in Boston lehrende Theologin Prof. Katharina von Kellenbach eingeschaltet, die die Familie seelsorgerisch darauf vorbereitete, was da an Erkenntnissen über den Vater und Großvater auf sie zukommen würde. Danach gab es Weihnachten den ersten Kontakt zwischen den in Deutschland und USA lebenden Geschwistern – nach 60 Jahren Funkstille. Und nach einer Lesung in der Berliner »Topografie des Terrors« interessieren sich nun auch israelische Medien für das Thema. Jüngst gab die älteste Wilke-Tochter der Zeitung Haaretz ein Interview über ihren Vater und das Buch.

Was aber wirklich zählt: Das Buch über den NS-Mörder, der sich als Lehrer ausgab, ist zum Unterrichtsstoff geworden – in Mölln, Lübeck, Braunschweig und mehreren Schulen im Allgäu. Die Lesungen vor Neunt- oder Zehntklässlern wurden zu den bewegendsten Momenten dieses halben Jahres. In Mölln etwa lasen, bearbeiteten und diskutierten Schüler das Buch mit Gleichaltrigen jüdischen Glaubens und schrieben mir dazu acht Briefe voller Fragen. Nach der Lesung in der Schule wurden diese vom Autor beantwortet. »Das werde ich so schnell nicht vergessen. Darf ich Sie in den Arm nehmen?«, fragte in Mölln ein 17-Jähriger zum Abschied. Er durfte.

Damit ist jetzt Schluss. Allein für das Frühjahr waren noch 15 Lesungen in Schulen und Gedenkstätten, darunter Lesereisen nach Schleswig-Holstein und Westbayern geplant. Das Virus hat die Pläne vorerst zunichte gemacht. Auch die Lesungen im Raum Leipzig fielen der Absage der Buchmesse zum Opfer. Zeit, an neuen Themen aus der Phase des großen Nachkriegsbeschweigens zu arbeiten. Weitere Besuche in den Archiven der Republik stehen an, sowie wir wieder reisen dürfen. Der Tochter des Folter-Arztes Dr. F. habe ich schon helfen können: mit der Original-Aussage aus der archivierten Ermittlungsakte gegen ihren Vater.

 

Jürgen Gückel, Autor von »Klassenfoto mit Massenmörder - Das Doppelleben des Artur Wilke«, war fast vier Jahrzehnte als Redakteur und Korrespondent für die Zeitungen der Madsack-Gruppe, darunter Peiner Allgemeine, Hannoversche Allgemeine Zeitung und Neue Presse, tätig und arbeitete zuletzt 23 Jahre lang als Polizei- und Gerichtsreporter des Göttinger Tageblattes. Für seine Arbeiten ist er vielfach ausgezeichnet worden. Er lebt heute wieder in seiner alten Heimat am Rande jenes Dorfes, in dem ein NS-Massenmörder zum geachteten Dorfschullehrer werden konnte.

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