Buchvorstellung und ihre Folgen

Das war ja zu erwarten. Wenn ein Dorfgeheimnis fünf, sechs Jahrzehnte bewahrt wurde und einer geht herum, fragt nach, durchbricht das Schweigen, sucht nach Zeitzeugen, nach der Wahrheit, dann werden die einen neugierig und die anderen verlegen. Mehr als drei Jahre lang hat der Journalist Jürgen Gückel das Schweigen über seinen ersten Lehrer, den Kriegsverbrecher und Massenmörder Artur Wilke, zu durchbrechen versucht. Viel hat er erfahren im Dorf über den Lehrer Walter Wilke, sehr wenig über den NS-Verbrecher Artur Wilke. Dabei waren sie doch ein und dieselbe Person – der SS-Hauptsturmführer Artur, der in Weißrussland eigenhändig Tausende Juden und Partisanen, aber auch harmlose Bauern, ihre Frauen und Kinder tötete, und der Volksschullehrer Walter, der im Krieg starb und in dessen Rolle der Bruder schlüpfte, um sich nach dem Krieg vor Strafverfolgung zu schützen. Und obwohl es damals, in den 50ern, viele ahnten, einige auch wussten, haben alle geschwiegen. Und nach Wilkes Verhaftung im Sommer 1961 und der Verurteilung zu zehn Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zu 6600 Morden, wurde weiter geschwiegen – bis Gückel sein Buch »Klassenfoto mit Massenmörder« vorstellte.

Unbehagen, weil einer das Schweigen bricht

Viele hätten es gern dabei belassen: weiter schweigen, nicht daran rühren. Bezeichnend die politische Diskussion im Ortsrat des heute 5600 Einwohner zählenden Stadtteils im niedersächsischen Peine. Der Autor hatte Ortsbürgermeister Holger Hahn (SPD) gebeten, ob der Ortsrat nicht die Schirmherrschaft für die Buchvorstellung übernehmen könne. Drei Debatten, zwei davon nichtöffentlich, endeten schließlich in einer Kampfabstimmung. Nur die SPD stand dazu – immerhin die Mehrheit. Den anderen Parteien war das Thema zu heikel. »Da kann ja jeder kommen. Als nächstes will der Sportverein eine Schirmherrschaft«, war ein vorgeschobenes Argument. »Da leben doch noch Angehörige, da kann man das nicht unterstützen«, war ein anderes.
So etwas hatte der im Dorf Fragende vorher schon gehört: »Lass doch die Familie in Ruhe«, »wühl doch den Dreck nicht wieder auf«, bis zu »das interessiert sowieso keinen mehr«, hatte er auf seine Fragen zu hören bekommen. Dabei wussten die, die sich so äußerten, nicht einmal, was sie da weiter verschweigen wollten. »Ich habe Bauklötze gestaunt, als ich das Buch sah«, ließ sich der Ortsbürgermeister in der Lokalzeitung zitieren, nachdem das Buch vorgestellt worden war. Und heute, nach den ersten Lesungen in der Region, fragen Ortsbürgermeister aus Nachbargemeinden nach, ob nicht auch bei ihnen gelesen werden könne – Kommunalpolitiker aus jenen Parteien, die im Stederdorfer Ortsrat noch dem vermeintlichen Nestbeschmutzer die Unterstützung verweigerten.

Fassungsloses Schweigen über die unfassbaren Verbrechen

Die Neugier war dann doch groß. Im Saal des Gasthauses, dem Originalschauplatz der Eingangsszene, war die dorfinterne Buchvorstellung. Nur geladene Gäste – die, die Auskunft gegeben hatten, dazu jene, die der Ortsrat informiert hatte, der Kirchenvorstand, das Kollegium der Schule. Statt der erwarteten 30, 40 Zuhörer waren 130 gekommen. Der Termin hatte sich herumgesprochen. Und statt neuerlicher Kritik am Nestbeschmutzer nun fassungsloses Schweigen nach der Lesung der ersten Kapitel über die unfassbaren Verbrechen, an denen sich der spätere Dorfschullehrer beteiligt hatte. Es dauerte lange Minuten, ehe die ersten zaghaften Fragen kamen.
Und um es vorweg zu nehmen: Bisher hat der Autor nach der Buchvorstellung noch nicht ein einziges neuerliches Wort der Kritik daran gehört, dass er öffentlich machte, was 57 Jahre lang in seinem Heimatdorf ein Tabu war.

Aufarbeiten oder weiter schweigen?

Nur hinten herum, über Dritte, erfährt man dann doch, dass sich einige wenige äußern: »Die arme Familie – und können sich nicht mehr auf die Straße trauen...« Wer nachfragt, erfährt schnell: Wer so redet, hat weder mit Familienangehörigen darüber gesprochen, noch das Buch über deren Vorfahren Artur Wilke gelesen. Der Kreisheimatbund, die örtliche Tageszeitung, die das Buch bis Weihnachten Kapitel für Kapitel mit täglich einer halben Seite abdruckt, sowie der Autor selbst versuchen nun, eine Podiumsdiskussion über die Frage zu organisieren: »Aufarbeiten oder weiter schweigen?«, so der Arbeitstitel. Bisher konnte noch niemand gefunden werden, der sich öffentlich zum Schweigen bekennen würde. Stattdessen melden sich immer mehr ehemalige Wilke-Schüler, Nachbarn oder Bekannte – auch solche, die sich bei erster Befragung nicht erinnern konnten (oder wollten) –, um noch etwas beizusteuern zum nunmehr kollektiven Schweigenbrechen.

 

Jürgen Gückel, Autor von »Klassenfoto mit Massenmörder - Das Doppelleben des Artur Wilke«, war fast vier Jahrzehnte als Redakteur und Korrespondent für die Zeitungen der Madsack-Gruppe, darunter Peiner Allgemeine, Hannoversche Allgemeine Zeitung und Neue Presse, tätig und arbeitete zuletzt 23 Jahre lang als Polizei- und Gerichtsreporter des Göttinger Tageblattes. Für seine Arbeiten ist er vielfach ausgezeichnet worden. Er lebt heute wieder in seiner alten Heimat am Rande jenes Dorfes, in dem ein NS-Massenmörder zum geachteten Dorfschullehrer werden konnte.

 

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