Der Anteil Wilhelms I. an der vor 150 Jahren geschaffenen deutschen Einheit wurde und wird oft unterschätzt. Zurückzuführen ist dies auf die manchmal allzu exklusive Fokussierung auf Bismarcks Handeln. Außerdem betrifft Wilhelms Anteil hauptsächlich den militärischen Bereich, über den man oft nicht gerne spricht, der aber beim Entstehen des Deutschen Reiches eine wesentliche Rolle spielte.
Die Vision einer deutschen Einheit unter preußischer Führung war für Wilhelm I. im Jahr 1871 nichts Neues, sondern im Grunde ein seit langem vertrautes Thema. „Wer Deutschland regieren will, muss es sich erobern“, hatte er seinem alten Freund Oldwig von Natzmer bereits am 20. Mai 1849 geschrieben. „Ob die Zeit zu dieser Einheit schon gekommen ist, weiß Gott allein! Aber dass Preußen dazu bestimmt ist, an die Spitze Deutschlands zu kommen, liegt in unserer ganzen Geschichte“, so der damalige Thronfolger.
Als Wilhelm ein knappes Jahrzehnt später die Macht in Preußen übernahm, begann er umgehend ein selbst entworfenes Aufrüstungsprogramm umzusetzen. Binnen weniger Jahre wurden die Streitkräfte vergrößert, modernisiert und intensivierten Trainingsprogrammen unterzogen. Diese Aufrüstung sollte allerdings mitnichten der Eroberung Deutschlands dienen, von der er 1849 geschrieben hatte. Wilhelm wollte, wie er in seinem Regierungsprogramm vom 8. November 1858 kundtat, vor allem imstande sein, bei einer außenpolitischen Krise „ein schwerwiegendes politisches Gewicht in die Wagschale legen zu können“. Eine Stärkung der Hohenzollernmonarchie hielt er vor allem deshalb für nötig, weil sie von drei größeren Mächten – Frankreich, Österreich, Russland – umgeben war und in den 1850er Jahren zweimal massivem Außendruck hatte widerstehen müssen, sich an Kriegen zu beteiligen, an denen Berlin eigentlich kein Interesse hatte.
Was hingegen Deutschland betraf, interpretierte Wilhelm das 1849 verwendete Wort „erobern“ mittlerweile unmilitärisch. Preußen müsse in Deutschland „moralische Eroberungen“ machen, so der damalige Prinzregent in seinem Regierungsprogramm, „durch eine weise Gesetzgebung bei sich, durch Hebung aller sittlichen Elemente und durch Ergreifen von Eingungselementen, wie der Zollverband es ist“. Anders formuliert: Wilhelm wollte der Hohenzollernmonarchie mit öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen Popularität in Deutschland verschaffen und so die Führungsrolle bei einem friedlichen Zusammenwachsen der deutschen Staaten erlangen.
An ein kriegerisches Vorgehen in Deutschland dachte Wilhelm (ab 1861 König Wilhelm I.) nicht. Es sei „das Verderblichste, was Preußen tun könnte“, wenn es „eine physische Eroberung, d.h. Ländervergrößerung durch Mediatisierung“ durchführe, hielt er dazu bereits in den frühen 1850er Jahren fest.
Allerdings besaß Preußen mit der von ihm aufgerüsteten Armee in den 1860er Jahren eine scharfe Waffe. Wilhelm I., der beträchtliche militärische Fachexpertise besaß, hatte diesbezüglich wirklich Nägel mit Köpfen gemacht. Am Vorabend der so genannten Einigungskriege war die preußische Armee flächendeckend mit dem Zündnadelgewehr ausgestattet, das eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich hohe Schussfrequenz erlaubte. Außerdem hatte Wilhelm I. die Mannstärke der preußischen Streitmacht deutlich erhöht und die Ausbildung der Soldaten an der Waffe in einem Ausmaß vorangetrieben, wie es bei den Streitkräften der anderen Großmächte nicht geschah.
Es war eine Ironie der Geschichte, dass Wilhelm I. mit seinem Aufrüstungsprogramm das Werkzeug für siegreiche Kriege schuf, es jedoch einen anderen brauchte, um davon Gebrauch zu machen: Otto von Bismarck, den Wilhelm I. im September 1862 mit der Leitung der preußischen Regierungsgeschäfte beauftragte.
Wilhelm I. war indessen auch weiterhin zurückhaltend, wenn es darum ging, sich auf bewaffnete Konflikte einzulassen. Insbesondere den Krieg gegen Frankreich versuchte er im Juli 1870 mit allen Mitteln zu verhindern. Dennoch trug er zu den Siegen auch über sein Aufrüstungsprogramm hinaus maßgeblich bei. Während der Feldzüge von 1866 und 1870/71 agierte Wilhelm I. trotz seines vorgerückten Alters als Oberkommandierender an der Front und spielte dabei als militärisch glaubwürdige Galionsfigur eine bedeutende Rolle. Von erheblichem Gewicht war außerdem seine Entscheidung, am Vorabend des Krieges gegen Österreich 1866 den „Schreibtischoffizier“ Helmuth von Moltke zum faktischen Feldherrn der preußischen Armee zu ernennen. Wilhelm I. setzte damit eine durchaus unorthodoxe Maßnahme, die intern zunächst für einiges Unverständnis sorgte. Dass plötzlich der Generalstabschef an der Spitze der Armee stand, war in Preußen ein völliges Novum. Bislang hatte im Kriegsfall stets die kommandierende Generalität den Feldherrn des Königs gestellt. Noch beim Dänemark-Feldzug von 1864 hatten Generalstäbler kommandierenden Generälen in untergeordneter Stellung zugearbeitet. Mit der Order Wilhelms I. wurde diese Hierarchie gleichsam auf den Kopf gestellt. Das sorgte in der Generalität für erheblichen Unwillen, ebenso die Person Moltkes selbst. Man betrachtete ihn abschätzig als Militärtheoretiker ohne nennenswerte Kommandoerfahrung und hielt ihn für ungeeignet, eine derart große Führungsaufgabe im Feld zu übernehmen. Bekanntlich erwies sich das Gegenteil als richtig. Wilhelms Entscheidung für Moltke war hochmodern gedacht. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Aufmarschplanung und Kriegführung zu komplex geworden, um von einer Einzelperson geleitet zu werden. Es brauchte dafür ein effizientes Management, und der Generalstab besaß die dafür notwendige Kompetenz. Indem Wilhelm I. die preußische Kriegführung Moltke und dem Generalstab unterstellte, verlieh er ihr eine neue, extrem zielgerichtete Qualität.
Als es schließlich im Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles zur Kaiserproklamation kam, war Wilhelm I. darüber bekanntlich nicht sehr glücklich. Noch am Vorabend der feierlichen Zeremonie lieferte er sich mit Bismarck deshalb eine heftige Auseinandersetzung. Dabei spielte beim Monarchen allerdings vor allem Wehmut mit. Dass die deutsche Kaiserwürde den preußischen Königstitel in den Schatten stellen würde, machte ihm schwer zu schaffen. Weit weniger störte ihn die nun fixierte preußische Vormachtstellung der Hohenzollernmonarchie im Kaiserreich. Im Grunde hatte sich sein altes Credo, dass Preußen dazu berufen sei, „an die Spitze Deutschlands“ zu kommen, bewahrheitet – und daran hatte Wilhelm I. nichts auszusetzen. Im Gegenteil.
Robert-Tarek Fischer ist promovierter Historiker. Er verfasste mehrere Publikationen zur Geschichte des Mittelalters sowie zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und ist seit vielen Jahren im österreichischen Bundeskanzleramt tätig. Letztes Jahr erschien seine Biographie »Richard I. Löwenherz. Ikone des Mittelalters« in neuer Auflage. Zum Jubiläum der Deutschen Reichsgründung von 1871 wendet er sich in seinem neuen Buch »Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser« einer oft unterschätzten Figur der deutschen Geschichte zu.