»Verstümmelte Körper?« – Kastratensänger in Mitteleuropa

Es erscheint uns heute unvorstellbar und grausam, dass vom 16. bis 19 Jhdt. männliche Kinder kastriert wurden, um ihre hohe Stimme zu erhalten. Noch seltsamer mutet uns der Umstand an, dass diese meist großen, dicken Männer – teilweise mit breiten Hüften und Brustansatz – auf Opernbühnen standen und mit ihren Sopran- oder Altstimmen männliche Helden, Könige oder Feldherren wie Achilles, Xerxes oder Alexander den Großen verkörperten. Dies war nicht nur für das italienische Publikum der Opernhäuser in Venedig, Neapel und Rom normal, sondern auch für die vorrangig adeligen Zuhörerinnen und Zuhörer an den europäischen Hoftheatern.

Bereits im 18. Jhdt. äußerten sich Autoren zunehmend negativ über Kastraten. Ihre Kritikpunkte erscheinen uns aus heutiger Sicht plausibel: Kastraten seien aufgrund ihrer körperlichen Besonderheiten abstoßend, aufgrund des sprichwörtlichen Einschnitts in ihre Physis keine richtigen Männer und sie seien unfähig, Gefühle durchs Singen zu transportieren. In enger Verknüpfung mit politischen und ökonomischen Entwicklungen in Europa im 18. und frühen 19. Jhdt. führte diese zunehmende Ablehnung dazu, dass Kastraten unpopulär wurden und ihre ‚Produktion‘ zurückging. So weit, so gut.

Doch obwohl viele zeitgenössische Quellen den Eindruck vermitteln, die Sänger seien bereits ab der ersten Hälfte des 18. Jhdts. gesamtgesellschaftlich abgelehnt und in eine Randexistenz gedrängt worden, feierten sie gerade in dieser Zeit europaweit ihre größten Erfolge. Vor allem Quellen aus dem Alten Reich (Verträge, Anordnungen, Suppliken, Korrespondenzen usw.) weisen auf eine starke Präsenz und Sichtbarkeit der Sänger während des ganzen 18. Jhdts. hin und sogar über 1806 hinaus. Denn an den zahlreichen Fürstenhöfen des Reichs war die italienische Oper en vogue und für ihre detailgetreue Umsetzung benötigte man Kastratensänger aus dem fernen Italien.

Kastratensänger an mitteleuropäischen Höfen
Die Unterhaltung eines festen Hofopernensembles war eine sehr kostspielige Angelegenheit, deswegen besaßen nur wenige Höfe feste Opernensembles. Der Kaiser in Wien, die bayerischen und sächsischen Kurfürsten sowie der württembergische Herzog investierten ab dem ersten Drittel des 18. Jhdts. viel Geld, um Kastraten aus Italien an die Höfe zu holen. Sie bildeten einen essentiellen Teil der höfischen Machtrepräsentation durch das Musiktheater. Darüber hinaus stellten sie in ihren Opernrollen die höfischen Tugenden des männlichen Herrschers dar, sicherten aber auch durch Kompositionen und Lehrtätigkeit die Qualität und Originalität des Musiktheaters. Als Sänger, Schauspieler und Instrumentalisten wirkten sie an symbolträchtigen musikalischen Anlässen mit, vor allem an den Hofgalatagen, also Hochzeiten, Taufen, Geburts- und Namenstage, aber auch in der Kirchenmusik und den großen Aufführungen in der Karnevalssaison. Kastraten fungierten also für die Fürstinnen und Fürsten als symbolisches Kapital, da vor allem der gesamteuropäische Hochadel dem jeweiligen Hof mehr symbolische Macht zuerkannte, je prachtvoller (und je italienischer bzw. habsburgischer) die Hofmusik ausgestattet war.
Gerade an der Verwendung deutscher Kastraten bzw. an dem Versuch, selbst Kastraten herzustellen, ist der hohe Wert dieser Sänger zu erkennen. Kastraten waren so wichtig für die musikalische Repräsentationskultur, dass man versuchte, sich vom italienischen Sängermarkt unabhängig zu machen. Zumindest für den Wiener, Münchner und Ludwigsburger Hof gibt es Hinweise, dass dort Knaben kastriert wurden.

Handlungsspielräume in höfischen Anstellungsverhältnissen
Der Status als symbolisches Kapital bildete den Rahmen für die Handlungsspielräume der Kastraten. Bei ihrer Anwerbung und bei den Verhandlungen um die sehr hohen Gehälter und die eigene Mobilität nutzten Kastraten gewisse Strategien gegenüber der Hofverwaltung. Im Gegensatz zu anderen italienischen Musikerinnen und Musikern konnten Kastraten ihre besondere Stimme in die Waagschale legen.

Erfolgreich war darin z.B. der junge Sopranist Domenico Annibali, der am Dresdner Hof angestellt war. Für ein mehrmonatiges Engagement an der Londoner Oper im Covent Garden Theatre hatte ihn sein Dienstherr August III. beurlaubt. Dort stand er mit großem Erfolg v.a. in den Werken auf der Bühne, die G. F. Händel für seine außergewöhnlichen stimmlichen Fähigkeiten geschrieben hatte. Auf diesem Höhenflug versuchte er von England aus eine bessere Besoldung in Dresden zu erwirken, indem er um Entlassung bat. Erst das Eingreifen des englischen Staatssekretärs Lord Harrington brachte ihn zur Räson. Mit großen Unterwürfigkeitsgesten kehrte der Kastrat im August 1737 nach Sachsen zurück. Seine Taktik war aufgegangen: Sein Gehalt wurde in den folgenden Jahren schrittweise erhöht. Was also zunächst als risikoreiches Vorgehen erschien, erwies sich als geschickter Schachzug, dem Fürsten seine starke Verhandlungsposition zu demonstrieren.

Kastraten waren auch selbst daran beteiligt, dass sie so lange im Reich angestellt wurden. Erst 1844 ging der letzte Kastrat am Dresdner Hof in Pension. Dafür war nicht nur die konservative Führung des Königreichs Sachsen verantwortlich. Auch der geschickte Umgang der letzten drei Sänger mit ihrer Seltenheit und der Befristung der Verträge führte in den 1820er bis 1840er Jahren dazu, dass ihr Anstellungen immer wieder verlängert wurden – trotz einer abnehmenden Akzeptanz von Kastraten durch gewisse Kreise am Hof.

Soziale Beziehungen außerhalb des Hofes
Teil eines höfischen Engagements war immer auch das Leben an einer Residenzstadt. Dabei war die Art des Wohnens und des Konsums stark mit der Interaktion mit den Mitbürgern verknüpft. Lebten sie zur Miete innerhalb der Stadt, bedeutete die Pflege demonstrativen Konsums eine Investitionsstrategie zur Schaffung von Sozialbeziehungen. Diese äußerte sich auf verschiedene Weise: Kastraten statteten z.B. ihre Wohnungen mit repräsentativen Einrichtungsgegenständen aus und konnten ohne Weiteres Gäste auf hohem Niveau bewirten.

Um diesen repräsentativen Lebensstil führen zu können, verschuldeten sich viele Sänger. Schuldenlisten zeigen, dass es sich bei den aufgeführten Posten meist um Dinge handelte, die hohen symbolischen Wert hatten und ihr soziales Kapital mehrten, wie die Anstellung von einheimischen Dienerinnen und Dienern, Genussmittel wie Fleisch und Kaffee sowie repräsentative Kleidung wie Perücken und Schuhe. Von ihren städtischen Schuldnern wurden sie als kreditwürdige Personen im symbolischen Sinne geachtet, auch wenn sie dies im wortwörtlichen Sinne nicht immer waren.

Eine weitere Art des sozialen Kapitals war die Familie. Kastraten pflegten entgegen der Forschungsmeinung enge Beziehungen zu Verwandten, sowohl zu jenen in Italien als auch zur nahen Familie am Residenzort. Vom Hof wurden sie als Un­terstützer und Versorger ihrer Familien anerkannt.

Besonders intensiv waren die­se Familienbande vor Ort, wenn die Sänger einem gemeinsamen Hau­sstand vorstanden. Oft wurden Geschwister, die ebenfalls Musikerinnen oder Musiker waren, gezielt ins Alte Reich geholt und dort von ihren Brüdern künstlerisch gefördert. Hatten diese Geschwister Kinder, übernahmen Kastraten auch die Vaterfunktion für Neffen und Nichten.

Starben Kastraten am Residenzort, waren es genau diese Angehörigen vor Ort, die in Testamenten als Ersatz für leibliche Nachkommen eingesetzt wurden, und nicht etwa andere Musiker. So setzte Agostino Galli, der von 1723–1778 in Diensten der bayerischen Kurfürsten Maximilian II. Emanuel und seinem Sohn Maximilian III. Joseph gestanden hatte, seine verbliebene Schwester Maria als einzige Universalerbin ein. Diese hatte mit ihrem Bruder und einer weiteren Schwester zusammen in München gewohnt, Seidenraupen im Hofgarten gezüchtet und Seide für die Wittelsbacher hergestellt.

Aushandlungspraktiken um Körper, 'Männlichkeit' und Identität
Inwieweit Kastraten als ‚männlich‘ empfunden wurden oder nicht, gehört wohl zu den Themen, die am meisten Interesse hervorrufen. Im 16. und 17. Jhdt. waren Kastraten zwar keineswegs vor Spott gefeit. Sie konnten jedoch innerhalb zeitgenössischer humoralpathologischer Vorstellungen als ‚kältere‘ und ‚feuchtere‘ Männer verortet werden.

In aufklärerischen Schriften ab den 1720er Jahren begann man jedoch die Sänger zunehmend als unpassend für ‚männliche‘ Bühnenrollen zu empfinden. Sie wurden sukzessive einer „Sonderanthropologie“ unterworfen, die sie aus gängigen Männlichkeitskonzepten (und damit der Gesellschaftsordnung) ausschloss. Die Dichotomisierung und Essentialisierung von Geschlecht in dieser Zeit wirkte sich also auch auf die Bewertung von Kastraten aus.

Der Umgang mit diesen Zuschreibungen gestaltete sich jedoch höchst Individuell. Dies zeigt sich u.a. in der Korrespondenz des Kastratensängers Giuseppe Jozzi mit dem befreundeten Musikerehepaar Franz und Marianne Pirker in den Jahren 1748/49. Seine über 50 Briefe dienten ihm nicht nur zum Informationsaustausch. Sie waren auch Plattform für die emotionale Beziehung, die er mit beiden führte. Er war nicht nur in die Sängerin verliebt, sondern pflegte auch engen Kontakt zu deren Ehemann, der wiederum von den Gefühlen seines Nebenbuhlers wusste. Das Schreiben ermöglichte dem Kastraten, sich durch bestimmte Gefühle, wie Liebe, Wut und Enttäuschung als ‚männlich‘ zu inszenieren. Das heißt, er bezog sich auf zeitgenössische Charakteristika eines ‚männlichen‘ Körpers und Geistes wie etwa der Hang zu übermäßiger Hitze, die Wut und Zorn auslöste.

Dieses Nebeneinanderher verschiedener Männlichkeitskonzepte zog sich bis ins 19. Jhdt. hinein. Der gefeierte Dresdner Hofkirchensänger Filippo Sassaroli wurde 1818 von einem Kollegen für die Aufnahme in die Freimaurerloge Zum goldenen Apfel vorgeschlagen. Mitglieder dieser und andere Logen diskutierten daraufhin die Frage, ob Kastraten überhaupt Freimaurer werden dürften. Die zentralen Argumente der Gegner stützten sich nur vermeintlich auf eine restriktive Auslegung der freimaurerischen Konstitutionen. Tatsächlich verwiesen ihre Gründe auf die sich etablierende bürgerliche Geschlechterordnung, indem sie sowohl seinen ‚Zustand‘ als auch dessen Konsequenz, die Ehelosigkeit, als Hinderungsgründe sahen.

Doch obwohl Sassarolis Befürworter dessen ‚Verstümmelung‘ nicht anzweifelten, vermochten sie es dennoch, ihm ‚männliche‘ Vorzüge zuzuschreiben. Diese speisten sich u.a. aus freimaurerischen Tugenden, Ansätzen der sich etablierenden „Geschlechtscharaktere“, aber auch aus spezifischen Vorstellungen von Empfindsamkeit und Gefühl, die um 1800 populär waren.

Das Unbehagen gegenüber Kastraten hat also Tradition. Dennoch sagt es weder damals noch heute etwas darüber aus, wie Kastraten von ihren Zeitgenossen wahrgenommen wurden oder wie lange sie erfolgreich in Europa wirkten. Das, was Kastraten waren und wie sie selbst und ihre Umgebung ihren Körper und ihr Geschlecht definierten, wurde nicht allein schriftlich ausgehandelt, sondern v.a. im alltäglichen Vollzug sozialer Praktiken.
Kastraten agierten im Rahmen höfischer Anstellungen als ‚Geschäftsleute‘: Durch geschicktes Vorgehen im Rahmen der höfischen Anstellung, handelten sie gleichzeitig ihren Status am Hof aus und verteidigten ihr Selbstverständnis als Künstler. Die Sänger reagierten improvisierend auf Herausforderungen, was als ein weiterer Grund für die lange Präsenz der Sänger in Mitteleuropa angesehen werden kann.
Dabei waren Unfruchtbarkeit und Eheverbot weder ein Hindernis, als angesehene Mitbürger betrachtet zu werden noch sich um die eigene Familie zu kümmern. Kastraten waren sozial eingebundene Akteure, da sie spezifische soziale Praktiken vollzogen, wie die Aneignung sozialen und symbolischen Kapitals sowie die Schaffung einer ‚Ersatzfamilie‘ aus Verwandten.
Schlussendlich machte es das lange Nebeneinanderher verschiedener Geschlechterdiskurse und verschiedener Männlichkeitskonzepte möglich, diese mittels Selbst- und Fremdzuschreibungen kreativ zu nutzen.
Abschließend kann man festhalten: Kastraten positionierten sich innerhalb bestehender Handlungsspielräume durch vielfältige Verhandlungs- und Aushandlungspraktiken immer wieder neu. Selbst in der Endphase ihres Bestehens wurden sie also nicht grundsätzlich als defizitäre „verstümmelte Körper“ wahrgenommen.

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