Starke Kinder – Die Lösung aller Probleme

Mein Name ist Bernd Kasper und ich beschäftige mich mit Fragen des Kinderschutzes. Eine oft nicht einfache, aber dafür umso wichtigere Aufgabe. Mir ist dabei eine Frage von Karl Valentin, dem alten Münchener Komiker, eingefallen: »Wieso machen wir uns überhaupt Gedanken über Kindererziehung, die Kinder machen uns doch eh alles nach?« Na super, dachte ich, damit hat er die Lösung doch gleich schon in die Frage gepackt. Leider habe ich dann einen Blick in die Tagespresse geworfen – keine gute Idee! Der Wunsch nach starken Kindern und unser aktuelles gesellschaftliches Miteinander – da spüre ich ein deutliches Zwicken in Bauchhöhe, kurz vor einer Übelkeit. Denn wenn der lustige Karl Recht hat, sollten wir uns ehrlicherweise fragen: Was leben wir unseren Kindern jeden Tag vor?

Als Optimist versuche ist es trotzdem – und wer mag, liest hoffnungsvoll weiter. Wenn wir uns starke Kinder wünschen und diese uns gleichzeitig alles nach machen, dann schauen wir doch mal, wie das zusammenpassen könnte.

Was Kinder brauchen

Was macht Kinder eigentlich zu starken Kindern? Man glaubt es kaum, aber bei der Geburt eines Kindes sind im Gehirn mehr synaptische Verschaltungen angelegt als jemals gebraucht werden - also Ressourcen ohne Ende. Sie alle warten darauf, genutzt zu werden (Super! Das kann ja nicht so schwer sein). Aber das ‚Verschalten’ von Nervenzellen und Synapsen geschieht nicht von allein, es wird bestimmt von den Erfahrungen, die das Kind macht und den Verhältnissen, auf die es nach der Geburt trifft (Mist! Es geht doch nicht allein).

Jedes Kind erlebt die Welt zu Beginn seines Lebens als etwas Fremdes und Neues. Dieses Neue will es kennenlernen und das zeigt es seinen Eltern mit allem, was es zur Verfügung hat: Es weint, es schreit, es schaut mit großen Augen, lacht und quiekt, es greift nach den Dingen, nimmt sie in den Mund; es rollt sich, krabbelt, steht auf, fällt um, Dinge fallen herunter, gehen zu Bruch – es lernt durch Ausprobieren und durch Erfahrung. Neugierde und der Gestaltungswille sorgen ganz maßgeblich für die Entwicklung eines Menschen. Und damit kommen wir Erwachsenen ins Spiel: Um stark zu werden braucht ein Kind seine Eltern. Sie sind die Menschen, die das Kind in all seinem Lernen nach „Versuch und Irrtum“ – hoffentlich – mit ausreichend Geduld begleiten.

Aber es braucht noch etwas mehr: Eine Gemeinschaft, in der es dazu gehören und Fehler machen darf; in der es sich zurechtfindet und Aufgaben erhält, an denen es wachsen kann. Das Kind braucht Freunde zum (Rollen)spielen. Es braucht die Nachbarschaft, um vergleichen zu können, es braucht Vereine, eine Schule – unterschiedliche Lernfelder. Es braucht „seine“ kleine Welt, die ihm hilft, zu einer eigenen Identität zu finden.

Und ein Kind braucht "natürliche" Erfahrungen! Es benötigt „Spielräume“, muss entdecken und gestalten dürfen. Es sollte Fahrradfahren lernen und dabei hinfallen dürfen. Es sollte auf einen Baum klettern dürfen und erfahren, dass es wehtut, wenn es herunterfällt. Ein Kind sollte erfahren, dass es Dinge in der Welt gibt, um die man sich liebevoll kümmern darf. Wenn es diese Möglichkeit erhält, werden im Frontalhirn Vernetzungen angelegt, die neues Lernen ermöglichen und altes verfestigen.

Derartige Erfahrungen schon in der frühen Kindheit führen dazu, dass das Kind nicht nur das tut, wozu es gerade Lust hat, sondern das, was ihm so wichtig ist, dass es sich darum kümmern will – es entwickelt Interesse und Selbstdisziplin (Hä, wie passt denn das zusammen?). Selbstdisziplin bildet sich jedoch nur durch positive Erfahrungen: Es ist ein schönes Gefühl, zu erfahren, dass man sich selbst so regulieren kann, dass man sich mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten in einen Prozess einbringen kann – und etwas schafft! Es ist schön, zu erfahren, wie hilfreich es ist, einen Baum mit Freunden zu erklettern, weil jemand da ist, der festhält oder die „Räuberleiter“ machen kann. Noch schöner ist es, wenn ein Dritter hilft, die Bretter hinaufzureichen, die man oben zwischen den Ästen einklemmt, um besser und sicherer sitzen zu können. Und dort, wo genau dies gelingt, haben Interessen und Selbstdisziplin die Möglichkeit zu wachsen: es entwickeln sich Kompetenzen beim Kind.

Da erfolgreiches Lernen unter dem Einfluss von Emotionen stattfindet, fehlt in der Sammlung des Notwendigen noch ein wichtiges Stichwort – Begeisterung. Begeisterung ist der "Dünger" für das Gehirn, sagt der Neurobiologe Gerald Hüther immer wieder. Stellen Sie sich das Strahlen eines Kleinkindes vor, dem es zum ersten Mal gelungen ist, einen Turm zu bauen, ohne dass er wieder zusammenfällt. Oder das Gefühl einer Erstklässlerin, die von der Lehrerin im Unterricht gelobt wird, weil sie eine tolle Antwort geben konnte. Und wie viel mehr Spaß macht es, wenn man nach dem mühsamen Klettern zu dritt auf den oberen Ästen des Baumes sitzt und johlend auf die Welt herunterschauen kann. Die Kinder erleben kleine Glücksgefühle – und es wird etwas aktiviert dort drinnen: Die emotionalen Zentren sind in Bewegung geraten. Im Gehirn wächst folglich besonders das heran wofür Menschen sich begeistern können. Deswegen lernen Kinder so viel. Ihnen ist etwas bedeutsam. Bedeutsamkeit entsteht durch Gefühle. Und Gefühle wiederum geben den Dingen in der Welt eine Wichtigkeit.

Selbstvertrauen ist das Wichtigste

Was also macht Kinder zu starken Menschen?

Es ist das Vertrauen in sich selbst. Das Zutrauen darin, dass sie etwas erreichen und bewältigen können. Das Vertrauen, dass jemand da ist, der hilft und stützt, wenn sie es einmal nicht aus eigenen Kräften schaffen. Das Vertrauen, dass alles wieder gut wird. Man nennt es auch Zuversicht. Klingt das nicht schön? Und was wäre, wenn sich dies im weiteren Leben fortsetzen ließe: das Gefühl von Vertrauen, Zutrauen und Zuversicht?

Tut mir leid – aber leider kommen wir Erwachsene schon vorher ins Spiel – schönen Dank auch, Karl. Kinder erfahren in ihrer kleinen Welt nicht selten schmerzhaft, dass es nicht immer so optimal für sie läuft wie beschrieben. Sie erleben, dass ihre Neugierde und ihr Lernwille im Alltag immer wieder begrenzt werden und dass sie Dinge vorgesetzt bekommen und Verhältnissen ausgesetzt sind, die sie nicht mitgestalten können, obwohl sie selbst betroffen sind.

Aber vielleicht hilft hier ein kleiner Switch auf die eigene Bedürftigkeit – also die von uns Erwachsenen. Haben wir Erwachsenen nicht auch eine „heimliche“ Vorstellung davon, dazuzugehören, wichtig zu sein, etwas leisten zu können? Und was wäre, wenn wir uns einfach die tollen Mechanismen in der kindlichen Entwicklung zu nutze machen? Wenn wir, bevor wir über das Erziehen nachdenken, uns mit dem »Nachmachen« beschäftigen?

Menschen, die als Erwachsene im Leben und im Arbeitsverhältnis stehen, verfügen doch auch über Fähigkeiten und Ressourcen. Diese Fähigkeiten können darin bestehen, dass sie ihre Arbeitskraft einbringen, weil es – im wahrsten Sinne des Wortes – etwas anzupacken gilt. Auf anderen Arbeitsplätzen werden Denkleistungen und Kreativität gefordert. An vielen Orten in einem Unternehmen wird eine Kombination von beidem als nützlich angesehen.

Was wir von starken Kindern für unsere Arbeit lernen können

Wir Erwachsene verbringen einen sehr großen Teil unserer Lebenszeit an unserem Arbeitsplatz – wenn wir denn einen haben. Und dort, wo Menschen viel Zeit verbringen, entstehen Wünsche und Erwartungen – ein Mitarbeiter möchte nicht nur Aufgaben erledigen, er möchte sich wohlfühlen, er sucht Zugehörigkeit. Mit zunehmender Beschäftigung entdeckt er, dass in einem konstruktiven Miteinander jeder Einzelne gebraucht wird – unabhängig von der ‚Hoch’wertigkeit der Aufgaben. Ein zufriedener Mitarbeiter am Fließband zur Herstellung eines VW Golf kann deutliche Auswirkungen auf das Endprodukt nehmen – ein unzufriedener möglicherweise weitaus deutlichere. Ein Mitarbeiter wird zu einem starken Mitarbeiter, weil er erlebt wie angenehm es ist, zu erfahren, dass man sich mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten in einen Prozess einbringen kann (kommt das nicht bekannt vor?). Er entwickelt ein Interesse für die Aufgaben, die an seinem Arbeitsplatz zu leisten sind. Dem Interesse auf dem Fuß folgt häufig ein Engagement, die Aufgaben gut zu bewältigen. Mit zunehmender Beschäftigung wird der Mitarbeiter zum Spezialisten für seinen Aufgabenbereich – das gilt sowohl für den Müllwerker als auch für den VW Golf Ingenieur. Er kennt die Abläufe, Erfordernisse und die Tücken seines Aufgabenbereiches wie kein anderer. Er lernt zu verstehen, wie sein Aufgabenbereich einzuordnen ist in das Gesamtgefüge. Und er entdeckt Lücken und Spielräume, die, wenn sie geschlossen oder umgestaltet werden, zur Verbesserung beitragen können.

Dem Bandarbeiter bei VW kommt vielleicht eine Idee zum Innenspiegel des Golfes, weil seine Frau ihn bei ihrem Schminken in ihrem Privatgolf schon mehrfach inspiriert hat. Diese Idee gibt er weiter und er wird dafür gelobt. Übernimmt VW diese Anregung sogar durch Einbau in der nächsten Golf Ausstattung, können Sie sich vielleicht vorstellen, wie stolz der Mitarbeiter darüber erzählen wird. Und weil dies eine sehr angenehme Erfahrung ist, entstehen bei dem Mitarbeiter Lernprozesse, die von Emotionen begleitet werden.

In der täglichen Beschäftigung mit den Aufgaben entsteht somit fast zwangsläufig eine Neugier, an der allgemeinen Aufgabengestaltung mitzuwirken. Und zu der Neugier gesellt sich der Gestaltungswille, der wiederum wirken kann, weil er Spielräume erhält. Aus dem Gestaltungswillen wird eine Aufgabe, die wiederum die Selbstdisziplin aufs Parkett holt, weil sie ein Ziel am Horizont sieht, und schon auf dem Weg zu diesem Ziel, selbst wenn er holprig sein sollte, wächst klammheimlich die eigene Bedeutsamkeit.

Aus starken Kindern werden starke Erwachsene

Das klingt doch alles sehr schön – bis hier hin. Aus starken Kindern werden starke Menschen und starke Menschen werden zu starken Eltern, zu starken Mitarbeitern, zu starken Beteiligten unserer Gesellschaft – damit wären sicherlich alle zufrieden: Eltern, Lehrer, Erzieher; Unternehmer, Coaches– na, die vielleicht nicht. Wenn aber menschliche Stärke ein so entscheidender Faktor für die Entwicklung von uns Menschen und unserem gesellschaftlichen Miteinander ist, stellt sich die letzte Frage fast von allein: Was hindert uns, eine doch eigentlich wünschenswerte Entwicklung positiv zu beeinflussen?

Diese Frage gebe ich nun gern weiter – an uns alle! Vielleicht wachsen wir ja bei der Beschäftigung mit dieser Frage über uns hinaus. Und vielleicht machen unsere Kinder uns genau dies nach...

Lieber Karl, dann wünsche ich mir, dass du Recht hast! Es wäre für mein Wohlbefinden durchaus förderlich.

Wenn Sie Lust haben, ein wenig tiefer in die Fragen einzutauchen, schauen Sie einfach in mein Buch.

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