Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland seit 1945

Aktuell sind die Haltungsbedingungen der meisten landwirtschaftlichen Nutztiere weder gesellschaftlich akzeptiert noch zukunftsfähig. Was der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft im März 2015 erstmals in dieser Schärfe formulierte, erfuhr mit dem Bericht der sogenannten Borchert-Kommission unter Leitung des ehemaligen Bundeslandwirtschaftsministers im Februar 2020 seine empirische Bestätigung. Die Kommission schlug vor, eine mengenbezogene Verbrauchssteuer auf tierische Produkte einzuführen, um mit diesen Einnahmen die Lebensbedingungen der Tiere zu verbessern. Das ist ein historischer Paradigmenwechsel. Jahrhundertelang, spätestens seit Albrecht Thaers aufklärerischen Gedanken über rationelle Landwirtschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert, gehörte es zum Kerngeschäft des sich herausbildenden modernen Staates, die Ernährung seiner Bürger durch möglichst günstige Lebensmittel sicherzustellen. Im Deutschen Kaiserreich wurde die Forderung nach einer Verbilligung von Fleisch zu einem wichtigen Thema der Sozialdemokratie, das es durch den wachsenden Unmut in der Bevölkerung auch auf die Agenda der anderen Parteien schaffte. Trotzdem hätte selbst noch Willy Brandt nicht schlecht darüber gestaunt, dass eine deutsche Bundesregierung vierzig Jahre nach seiner Regierungszeit nicht mehr allein den Menschen im Blick hat und ausruft: »Den Tieren muss es am Ende der Legislaturperiode besser gehen als heute.«

Doch spätestens in den 2010er Jahren ist die richtige Art Rinder, Schweine und Hühner zu halten, im Zentrum einer kontroversen öffentlichen Diskussion angekommen. Die Suche nach Antworten auf die Fragen, ob Ferkel mit oder ohne und wenn mit, dann mit welcher, Betäubung zu kastrieren sind, ob Hühnern ihre Schnäbel abgeschnitten und Rindern ihre Hörner verödet werden dürfen, oder ob sich eine Sau im Stall umdrehen können sollte, avancierte zum Kerngeschäft aktueller Agrarpolitik. Diese Themen sind nicht mehr auf die Agrarwissenschaften beschränkt, sondern mobilisieren die Medien, zivilgesellschaftliche Bewegungen und zahlreiche Konsumentinnen und Konsumenten. Kein Zweifel: Zwischen Stall und Gesellschaft rumort es derzeit gewaltig.

Tierarzt STall

 

Jüngst rückte die konzentrierte, effiziente und großmaßstäbliche Fleischwirtschaft ins mediale Blickfeld, weil große Schlachtbetriebe wie jener von Clemens Tönnies in Rheda-Wiedenbrück oder das Wiesenhof-Werk in Wildeshausen zu deutschen Hotspots der COVID-19 Pandemie wurden. Medienvermittelt lasen wir von der ungemein großen Zahl an Tieren, die in engem Takt, rund um die Uhr angeliefert, getötet und verarbeitet werden und zwar von Menschen, die sich, wie die Tiere selbst, ansonsten hinter den Kulissen des gesellschaftlichen Lebens bewegen. Der durch die Corona-Ausbrüche ausgelöste erneute Lockdown zweier nordrhein-westfälischer Landkreise ließ die gesellschaftlichen Kosten der Fleischindustrie besonders prägnant greifbar und den Ruf nach einer Systemveränderung lauter als sonst üblich werden. »Revolution im Stall« betrachtet die Geschichte der Massentierhaltung und erklärt die Entstehung und Durchsetzung gegenwärtiger Formen landwirtschaftlicher Tierhaltung und ebenso die Genese ihrer gesellschaftlichen Kritik. Das Buch gibt damit Aufschluss darüber, wie es zu der heute kontrovers diskutierten Tierwirtschaft kam, anstatt der aufgeregten Debatte eine weitere empörte Stimme hinzuzufügen.

Die Tiere verschwanden

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rissen die Verbindungen zwischen der Branche landwirtschaftlicher Tierhaltung und der restlichen Gesellschaft immer stärker ab. Zwei Entwicklungen begründeten ein neuartiges Auseinanderfallen von Stall und Gesellschaft: Erstens veränderten sich die Kontaktpunkte zwischen Mensch und Tier. Durch Konzentration, Reduktion und die räumliche Verlagerung der Tiere in die Ställe hinein und der Ställe aus den Dörfern hinaus verringerten sich traditionelle Kontaktpunkte. In zahlreichen Gegenden verschwanden die Tiere völlig aus dem Erleben der Menschen und traten nur mehr als verpacktes Produkt im Supermarkt in Erscheinung. In anderen Gegenden waren die Tiere zwar ebenfalls nicht länger sichtbar, aber durch den Geruch ihrer konzentrierten Haltung präsent – so etwa in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg im südlichen Oldenburger Münsterland, die den agrargeografischen Beinamen »Schweinegürtel« bekamen. Auf diskursiver Ebene entstanden zeitgleich jedoch neue Kontaktpunkte zwischen Stall und Gesellschaft. Herkömmlicherweise waren Rinder, Schweine und Hühner ausschließlich Gegenstand in landwirtschaftlichen Wochenblättern und Fachzeitschriften. Seit Ende der 1960er Jahre wurden die real unsichtbarer werdenden Tiere zum Gegenstand massenmedialer Berichterstattung. Fortan prägten Skandalisierungsdynamiken die Diskussion um Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion, während zugleich sachliche Informationen über die sich so stark wandelnden Produktionsbedingungen von Milch, Eiern und Fleisch immer seltener flossen. Welche Wucht die medienvermittelten Tiere entfalten konnten, zeigte die Ausstrahlung einer Folge der Fernsehsendung »Ein Platz für Tiere« des Frankfurter Zoodirektors Bernhard Grzimek am 13. November 1973. Statt – wie in der Sendung üblich – afrikanische Tiere in freier Natur, sah das westdeutsche Fernsehpublikum zur Primetime deutsche Hühner in ihren Käfigen. Die Sendung war der Startschuss für eine dreißig Jahre andauernde öffentliche Diskussion um die Legitimität der Geflügelkäfighaltung, an deren Ende ein verfassungsrichterliches Verbot der Haltungspraxis stand.

Die Reaktion auf diese Fernsehsendung verdeutlicht zugleich die zweite Veränderung im Verhältnis zwischen Stall und Gesellschaft. Seit Anfang der 1970er Jahre wandelten sich die Anforderungen, die Verbraucherinnen und Verbraucher an die Produktion ihrer Nahrungsmittel stellten. Die Produkte wurden jetzt nicht mehr nur nach ihren Eigenschaften, sondern auch nach ihrem Entstehungsprozess bewertet. Nach der Fernsehsendung im November 1973 starteten mobilisierte Konsumentinnen und Konsumenten Unterschriftenaktionen gegen die Geflügelkäfighaltung, organisierten aufklärerische Filmabende und forschten zu alternativen Haltungsmethoden. Postmaterialistische Werte wurden in der deutschen Konsumgesellschaft gerade dann wirkmächtig, als in der Tierhaltung die fordistische Massenproduktion realisiert worden war. Das ist die Wurzel der aktuellen Streitfragen. Dadurch fielen die landwirtschaftliche und außerlandwirtschaftliche Sphäre der Gesellschaft weiter auseinander. Während innerhalb der Branche ökonomische Verbilligungseffekte durch standardisierte Massenproduktion in den Vordergrund rückten, sorgten sich Verbraucherinnen und Verbraucher zunehmend um immaterielle Bedürfnisse im Verhältnis zwischen Mensch, Tier und Umwelt.

Stall und Gesellschaft verloren sich aus dem Blick

Wir befinden uns heute in einem Aushandlungsprozess um legitime Tiernutzung zur Lebensmittelerzeugung. Der alte Konsens, wonach mehr und günstigere tierische Lebensmittel uneingeschränkt erstrebenswert für das individuelle und gesellschaftliche Leben seien und agrarpolitische Weichen folglich auf produktivere Tiere und effektivere Bewirtschaftungsmethoden gestellt wurden, ist erodiert. Doch die gegenwärtige Debatte ist konfliktgeladen und verworren. Landwirtschaft und im Besonderen landwirtschaftliche Tierhaltung ist ein Wirtschaftsbereich mit eigener Logik.

Volkswirtschaftlich rutschte die Landwirtschaft in den letzten siebzig Jahren mit jedem Jahrzehnt stärker in die Bedeutungslosigkeit. Der Anteil der in Land-, Forstwirtschaft und Fischerei Beschäftigten sank von einem Viertel aller Beschäftigten 1950 auf inzwischen 1,3 Prozent (2019), der Anteil des Wirtschaftssektors an der Bruttowertschöpfung auf unter ein Prozent (2019) und die Zahl der Betriebe halbierte sich seit 1950 alle zwanzig Jahre. Die Folge: Landwirtschaftliche Tierhaltung verschwand aus dem persönlichen Erleben der allermeisten Menschen. Jenseits von Viehtransportern auf der Autobahn bekommt kaum mehr jemand Rinder, Schweine oder Hühner zu Gesicht. Der Blick auf die Produkte landwirtschaftlicher Tierhaltung hat sich nicht weniger grundlegend gewandelt. Ende des 19. Jahrhunderts waren tierische Lebensmittel noch der »Maßstab für die Culturstufe der Völker Europas«, weil nur sie »müde Arbeiter und träge Denker« verhinderten. Seit Mitte der 1950er Jahre, nachdem der unmittelbare Nachkriegsmangel in der »Fresswelle« kompensiert worden war, wurden sie zu einer zunehmend ambivalenten Angelegenheit. Um 1960 geriet zunächst fettes Schweinefleisch in Misskredit, weil sein Konsum unattraktiven Körperformen Vorschub leiste und zudem mit Herz- und Kreislauferkrankungen in Zusammenhang gebracht wurde. Ihm folgten Eier und Butter, die Sehnsuchtsgüter in Mangelzeiten, deren Konsum ab einer gewissen Dosis nun ebenfalls als gesundheitsgefährdend galt. Die Angst vor »zu wenig« begann, von der Angst vor »zu viel« abgelöst zu werden. In der jüngsten Vergangenheit verschärfte der Klimawandel die seit den 1980er Jahren geführte Ökologiedebatte um die negativen Umweltauswirkungen landwirtschaftlicher Tierhaltung. Der Beitrag der Tierhaltung als globaler Flächenverbraucher für den Anbau von Futtermitteln und als Treibhausgasproduzent trat neben das bereits seit Jahrzehnten problematisierte Abfallprodukt Gülle, dessen Überdosis den Nitratgehalt des Grundwassers ansteigen lässt. Schließlich sind es die Tiere selbst, die den Wirtschaftsbereich Tierhaltung verkomplizieren und so zur anspruchsvollen Gemengelage des aktuellen agrarpolitischen Konflikts beitragen. Aufgrund ihrer Qualität als Lebewesen stellen Menschen Forderungen an ihre Bewirtschaftung, die sich deutlich von der Produktion unorganischen Materials unterscheiden. Im November 2019 etwa reichte die Tierschutzorganisation PETA im Namen von Ferkeln, die betäubungslos kastriert werden, Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, weil diese Praxis dem seit 2002 im Grundgesetz festgelegten Staatsziel des Tierschutzes widerspreche.

Fleisch Supermarkt

Parallel zu all diesen Veränderungen blieben tierische Lebensmittel und ihre Herstellungsbedingungen maßgebliche Determinanten der landschaftlichen Prägung und sie berühren weiterhin den Kernbereich individueller und kollektiver Existenz. Ihre Verfügbarkeit bleibt auch in Zeiten des Überflusses eine soziale Frage. Landwirtschaftliche Tierhaltung betrifft auf intime Weise alle Menschen als Konsumentinnen und Konsumenten und hat es dabei mit einer Stofflichkeit und Existentialität zu tun, die anderen Wirtschaftsbereichen fehlt. Der Vergleich mit Transformationserfahrungen anderer Wirtschaftsbereiche eignet sich daher kaum, den aktuellen Herausforderungen beizukommen. Stattdessen hilft der Blick zurück, Licht ins Dunkel der Konfliktlagen zwischen Stall und Gesellschaft zu bringen, die typisch für moderne westliche Wohlstandsgesellschaften sind.

Veronika Settele

  

Bitte geben Sie die Zeichenfolge in das nachfolgende Textfeld ein

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Passende Artikel