Meine Mutter, Klara Ciompi geb. Lehmann, geboren am 16. September 1902 in Langenthal und gestorben am 19. Februar 1974 in der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau bei Bern, Mamma genannt, war verrückt, Diagnose: schleichende Schizophrenie, wie in der Krankenakte, die ich als junger Assistenzarzt in ebendieser Klinik anno 1957 einmal heimlich studiert habe, zu lesen war.
Wer war Mamma in Wirklichkeit? – Nach Fotos zu schließen, war sie eine ausgesprochen schöne, feinfühlig und etwas schwermütig wirkende Frau mit großen dunklen Augen, lange als Einzelkind der Liebling ihres Vaters, bis sie siebenjährig vom Bruder Gottfried (geboren 1909) und zwei Jahre später auch noch von der Schwester Elisabeth (genannt Bethli, geboren 1911) entthront wurde. Ein offenbar schlecht verwundenes Trauma, denn einerseits soll sie „das Gottfriedli“ abgöttisch geliebt und gepflegt, andererseits ihm aber auch mehrfach explizit den Tod gewünscht und ihn tatsächlich einmal lebensgefährlich vernachlässigt haben.
Eine gewagte Verbindung
Jedenfalls galt „das Kläry“ allen Berichten gemäß schon immer als etwas eigentümlich und unberechenbar bis exzentrisch: Sie trieb Sport und fuhr Ski schon in den Zwanzigerjahren und verbrachte Jahre in exklusiven Haushalts- und Sprachschulen, ohne (wie das bei Töchtern aus gutem Haus damals üblich war) je „etwas Rechtes“ zu lernen. Ungefährsechsundzwanzigjährig brachte sie mein Großvater Gottfried Lehmann senior, ein Bauernsohn aus dem Emmental, der sich nach einer kaufmännischen Lehre und einer günstigen Erbschaft zum erfolgreichen Käseexporteur mit weit verzweigter internationaler Kundschaft aufgeschwungen hatte, zum Sprachstudium zu Geschäftsfreunden nach Florenz. Das Kläry habe damals, wie die ganze Familie, einen richtigen Italienfimmel gehabt, in Florenz mit italienischem Jungvolk ein lustiges Leben geführt und dort dann meinen Vater Manlio Ciompi, einen hübschen, schlanken und um sechs Jahre jüngeren Medizinstudenten kennengelernt. Nach anfänglichem Zögern sollen insbesondere die Schweizer Eltern auf Heirat gedrängt haben, offenbar in der Hoffnung, ihre immer etwas unstabile Tochter dadurch zu festigen. 1928 heirateten meine Eltern, im Oktober 1929 wurde ich in Florenz geboren, und anderthalb Jahre später folgte meine Schwester Lill (Liliana).
Erste Anzeichen von Verrücktheiten
In diese Zeit müssen verschiedene traumatische Ereignisse gefallen sein, denen die verletzliche und in keiner Weise auf eine komplizierte Ehe vorbereitete Frau nicht gewachsen war, darunter nicht nur die prekäre Partnerschaft mit dem um sechs Jahre jüngeren Medizinstudenten, der chronische Geldmangel und die zwei rasch aufeinanderfolgenden Schwangerschaften, sondern offenbar auch eine vorübergehende Liebesaffäre meines Vaters mit einer nahen Verwandten Mammas kurz vor Lills Geburt. Jedenfalls sei Mamma nach den zwei Schwangerschaften immer auffälliger geworden. Mich soll sie schon als kleines Kind, wie die jüngere Schwester meines Vaters wiederholt berichtet hat, schwer vernachlässigt haben. Sie hätte mich oft stundenlang schreien lassen und sei, statt mir die Brust zu geben, einfach spazieren gegangen. Auch hätte sie ab Beginn der 1930er Jahre eine krankhafte Bakterienangst entwickelt und fortwährend (woran auch Lill und ich uns noch sehr gut erinnern) alles Mögliche – Möbel, Gegenstände und insbesondere Türklinken – mit dem Desinfektionsmittel Lysoform gereinigt. In ihren absonderlichen Verhaltensweisen konnte sie unbändige Energien entfalten, die alle Widerstände brachen und die Umgebung zur Verzweiflung trieben. Daneben war sie aber, wie ebenfalls einige Fotos bezeugen, auch eine passionierte Skifahrerin und Sportlerin, die – wie es hieß – mit verschiedenen Skilehrern befreundet war und unstet von Hotel zu Hotel herumzog.
Zu dritt allein
Im Übrigen fürchteten Lill und ich Mamma mehr als dass wir sie liebten, wenn sie auch in einigen ganz seltenen lichten Momenten plötzlich mal überraschend lieb und sogar weich sein konnte. Für gewöhnlich aber war sie eigentümlich starr und ernst und eigentlich fast ausschließlich verbietend. An irgendwelche Zärtlichkeiten wie zum Beispiel je auf den Schoß genommen, umarmt oder auch nur zärtlich berührt zu werden kann ich mich jedenfalls in keiner Weise erinnern, auch nicht in früher Kindheit. Eingeprägt hat sich mir dagegen, wie Mamma nicht selten im zweiten Stock der elterlichen Villa, wo wir ab 1943 im Anschluss an ihren Klinikaufenthalt zu dritt in einer chaotischen Notwohnung wohnten, mit wuchtigen und das ganze Haus erschütternden Schritten im Korridor auf und ab ging und Unverständliches vor sich her schimpfte. Einmal stürmte sie sogar ins schöne, mit Perserteppich und Lüstern ausgestattete „große Zimmer“ neben den Büroräumen im Erdgeschoss hinunter, das ihrem Bruder als Empfangs- und Konferenzraum für noble Kunden diente, und sagte meinem erschrockenen Onkel vor einer Gruppe von belgischen Geschäftsfreunden mit gewaltiger Stimme alle Schande.
Zumeist aber lag sie völlig passiv bei verdunkelten Fenstern und zusammengerollten Teppichen in ihrem Zimmer im Bett, oder vielmehr in einem der drei Zimmer der Wohnung, die sie, kaum hatten Lill und ich uns in einem von ihnen halbwegs wohnlich eingerichtet, nacheinander gewaltsam mit Beschlag belegte. Überall hortete sie in Schubladen und Taschen verfaulende Esswaren vermischt mit Geld und Abfällen. Etwas Sinnvolles im Haushalt getan oder gar gekocht hat sie, nach meiner Erinnerung, nur ein einziges Mal, nämlich am allerersten Tag unseres Einzugs in diese Wohnung, den sie dank ihrer unglaublichen Hartnäckigkeit gegen die Skepsis von Verwandten und Ärzten hatte durchsetzen können. Lill und ich (vor allem Lill) besorgten während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, bis ich nach bestandenem Abitur 1949 endlich ausziehen konnte, den Haushalt völlig selbständig, vom Kochen, Einkaufen und Einteilen des knappen Haushaltgeldes (300 Schweizer Franken pro Monat) und der im Krieg streng rationierten Lebensmittel bis zum hektischen Putzen der Wohnung, wenn alle paar Monate einmal der Besuch des Vormunds aus Bern oder alle zwei Jahre eine Kontrolle durch die örtliche Vormundschaftsbehörde angesagt war. Weil wir uns Mammas und der grausigen Verhältnisse im Dachgeschoss dieser vornehmen Dorfvilla mit Park zutiefst schämten, verrieten wir niemandem ein Sterbenswort davon, wie es bei uns in Wirklichkeit zuging.
Ein Silberstreifen am Horizont
In meiner ersten didaktischen Psychoanalyse (auch Lehranalyse genannt,1958–60) war dann freilich von Mamma viel die Rede; besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein damaliger Traum von einer riesigen grünlichblauen Gletscherfläche unter grauem Himmel. Nur ganz tief am Horizont gab es einen hellen und freundlich warm schimmernden Streifen. Dieses Traumbild war in der Analyse für mich ganz klar ein Symbol der Mamma. Und tatsächlich gibt es in meiner Erinnerung auch einige freundlichere Momente, die diesem Silberstreifen entsprechen mögen: Zum Beispiel trank Mamma ein- oder zweimal mit uns am Nachmittag Tee und erzählte dabei lustige Geschichten von früher, vor allem von ihrem geliebten Vater. Einmal sang sie sogar ein kleines russisches Liedchen, das „der Vati“ von einer seiner Russlandreisen (wohl noch vor dem Ersten Weltkrieg) heimgebracht hatte. Von Italien, von Grindelwald, von der Klinik und von ihrer verunglückten Ehe war dagegen nie die Rede. Aber gelegentlich ertappte ich sie bei der Lektüre von Dantes „Divina commedia“ (dt. „Göttliche Komödie“), die sie mir aus meinem Bücherregal stibitzt hatte. Und ganz selten einmal kam es zu einer Art von Gespräch rund um Dinge, die die Moral oder Religion betrafen. „Man muss Gott danken, dass man ein Dach über dem Kopf hat“, war eine ihrer stehenden Redensarten.
Eine gefürchtete Widersacherin
Verwirrend war, dass Mamma trotz ihrer angeblichen Schizophrenie, von ihren abwegigen Verhaltensmustern einmal abgesehen, immer voll geordnet und ohne klar psychotische Symptome wie Wahn oder Halluzinationen war. Wenn es darum ging, gegen den Widerstand von Ärzten oder Familie etwas durchzusetzen, so konnte sie mit ihrer scharfen Argumentierkunst sogar zur gefürchteten Widersacherin werden. Nur in ihren letzten Jahren, als sie nach dem Verlust einer prekären Wohnung wiederum fast so unstet wie früher von einer Pension zur anderen herumzog und schließlich erneut psychiatrisch hospitalisiert werden musste, sprach sie hie und da vage wahnhaft von Italienern, die sie auf der Straße beobachten und bedrängen würden. Mit zweiundsiebzig Jahren verstarb sie in der Klinik Waldau bei Bern unerwartet an Herzschwäche – nicht ohne dass sie bei meinen letzten Besuchen kurz zuvor mehrfach durch zwei, drei rätselhafte und vorher nie beobachtete plötzliche Beugebewegungen von Rumpf und Rücken quasi angedeutet hatte, dass etwas in ihr am Zerbrechen sei. Ich muss gestehen, dass ich über Mammas Tod nicht nur traurig, sondern auch erleichtert war, denn zeitlebens war sie für Lill und mich vorwiegend eine unheimliche Last und vor allem ein nie lösbares praktisches Problem gewesen.
Das Bild des unermesslichen Gletschers mit dem hellen Streifen weit weg am Horizont entspricht noch heute dem Grundgefühl, das mir von unserer armen, gestörten und zugleich doch auch so starken und kompromisslos gradlinigen Mutter geblieben ist.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.