Zeitweise kommt mir in den letzten Tagen ein Gefühl von drohendem oder zum Teil auch bereits eingetretenem Kontrollverlust an allen Ecken und Enden hoch. Vordergründig habe ich zwar das meiste, was ansteht, noch einigermaßen im Griff. Dahinter aber lauert immer unüberhörbarer die Frage, ob und wie lange ich wohl all das viele, was täglich zur Bewältigung eines normalen Lebens nötig ist, noch zu leisten vermag: einkaufen, Briefe beantworten, Rechnungen und Steuern rechtzeitig bezahlen, Auto fahren, sich im Verkehr bewegen, mit Ticketautomaten umgehen, reisen und so weiter und so weiter.
All das erfordert komplexe kognitive Fähigkeiten, die nur so lange selbstverständlich sind, wie sie reibungslos ablaufen. Schon jetzt bleiben dringliche Korrespondenzen manchmal wochenlang liegen. Seit Jahren türmen sich auf meinem Bürotischchen Tausende von jahrzehntealten Fotos, die endlich beschriftet und ordentlich in ein Album eingeklebt werden sollten. In knapp zwei Monaten soll ich einen Vortrag halten und habe noch immer kaum eine Ahnung, was ich dort sagen will. Und natürlich schreitet langsam der körperliche Verfall, obwohl scheinbar fast alles weiterhin recht gut funktioniert, stetig voran. Die letzte ophthalmologische Untersuchung zum Beispiel hat erstmals Anzeichen einer beginnenden, wenn auch vorderhand noch ziemlich harmlosen Netzhautschädigung ergeben. Die unvorhersehbar wechselnden, nach Meinung der Ärzte von einer Verengerung des Wirbelsäulenkanals herrührenden Beschwerden beim Gehen und Stehen, die vor einigen Jahren begonnen und in der letzten Zeit deutlich zugenommen haben, machen manchmal sogar winzige Ortsveränderungen zur Qual, von kleineren Spaziergängen oder Wanderungen ganz abgesehen (demnächst sehe ich unabhängig voneinander zwei Neurochirurgen wegen der Frage einer eventuellen Rückenoperation. Ich bin skeptisch...). Sehen und allmählich auch Hören unter prekären Bedingungen (zu wenig Licht, zu kleine Schrift, zu viel Lärm etc.) wird immer schwieriger, was zu grotesken Missverständnissen und Fehlhandlungen Anlass geben kann. Und manches anderes mehr.
Wie leicht ist es zudem, sich gehen zu lassen und immer mehr Schwieriges oder auch bloß Widriges, gutwilligen Helfern, am leichtesten noch der um fünf Jahre jüngeren Ehefrau, zu überlassen, vom Einhalten von Arztterminen und anderen Verabredungen bis zum Ausfüllen der Steuererklärung. Statt Treppen zu steigen, den Lift zu benutzen, statt zu Fuß zu gehen, doch schnell mit dem Auto zur nahen Post zu fahren. Lieber verzichten, statt selbst den Umgang mit dem Computer, dem Internet oder dem neuen i-Pad besser zu erlernen…
Schlechte Gewohnheiten setzen sich sehr schnell fest und sind schwer wieder loszuwerden. Der treue, wenn auch perfide Begleiter des zunehmenden Kontrollverlusts heißt Regression, Regressionslust. Wieso sich selbst anstrengen, wenn jemand Anderes – die Ehefrau, ein Freund, irgendein Unbekannter auf der Straße, in der Tram, in der Metro – bereitwillig hilft und die Kontrolle übernimmt. Kein Zweifel: Der zunehmende Kontrollverlust ist das wichtigste und jedenfalls unmissverständlichste Kenn- und Wahrzeichen des Alterns – unausweichlich bis hin zum totalen Verlust jeglicher Kontrolle überhaupt: Zum Tod.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.
Mein Weg mit der Schizophrenie – Zunehmender Kontrollverlust
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