Ich spreche – wie so viele Schweizer – mehrere Sprachen: von klein auf als Mutter- und „Vatersprache“ bald Deutsch, bald Italienisch nach- oder manchmal auch durcheinander, zudem, da seit über fünfzig Jahren in der Westschweiz ansässig, Französisch als tägliche Umgangssprache, und selbstverständlich seit Jahrzehnten ebenfalls Englisch als Sprache der Wissenschaft und unentbehrliche lingua franca. Darüber hinaus lernte ich mit der Zeit auch noch leidlich Spanisch und Neugriechisch, ersteres nachdem ich schon auf dem Gymnasium einen einjährigen Spanischkurs besucht und nach Abschluss des Medizinstudiums meine Spanischkenntnisse einige Wochen lang als Schiffsarzt auf einem Frachter entlang der südamerikanischen Westküste gefestigt hatte, und letzteres, weil Griechisch die Muttersprache meiner Ehefrau ist und wir fast jedes Jahr einige Wochen in ihrem Heimatland verbringen.
Keine Frage, dass mir diese Mehrsprachigkeit in Beruf und Alltag immer wieder wichtige Fenster und Türen geöffnet hat. Ohne Französisch und Englisch zum Beispiel hätte meine Berufskarriere einen völlig anderen Verlauf genommen. Und viele entscheidende Begegnungen, mit Einschluss derjenigen mit Mairi (1953 während der »Fêtes de Genève«) sind nur dank diesen Sprachkenntnissen zustande gekommen.
Erst spät ist mir bewusst geworden, dass diese Mehrsprachigkeit auch ihre Kehrseiten hat, unter anderem indem sie gewissermaßen meine Identitätsprobleme aus der Kindheit ins Erwachsenenalter fortschrieb: überall ein wenig, aber nirgendwo ganz dabei und verwurzelt sein, immer und überall auch ein wenig fremd bleiben. Dies gilt im Grunde selbst noch für die Familie. Sowohl mit meiner Frau wie mit den Kindern und Enkeln spreche ich Französisch, also eine Fremdsprache, was zwar nicht im Alltag, aber doch in intimeren Momenten zum Problem werden kann: beispielsweise in der Liebe oder im Zorn.
Sogar beruflich gereichte mir meine Mehrsprachigkeit nicht nur zum Vorteil. So erwies es sich zum Beispiel als kapitaler Fehler, dass ich mein allererstes wissenschaftliches Buch – ein im Rahmen der sogenannten „Enquête de Lausanne“ zusammen mit einem italienischen Kollegen verfasster Bericht über den Langzeitverlauf von 155 vor Jahrzehnten erstmals depressiv erkrankten Menschen – seinerzeit im Huber-Verlag auf Französisch veröffentlicht habe.[1] Dieses Buch ist meines Wissens nie von jemandem gelesen worden. Jedenfalls bin ich nie auch nur auf das geringste Zitat noch auf einen Forscher gestoßen, der sich auf diese Untersuchung bezogen hätte. Kein Wunder, denn der Huber-Verlag war ja im französischen Sprachraum so gut wie unbekannt, und englisch- oder deutschsprachige Experten lesen ohnehin kaum je französische Fachliteratur.
Überhaupt war (und bin) ich häufig im Dilemma, in welcher Sprache ich publizieren soll: Was nicht auf Englisch erscheint, ist heutzutage wissenschaftlich obsolet und provinziell. Aber sprachlich Anspruchsvolleres, insbesondere Bücher, schreibe ich doch viel lieber (und zweifellos auch besser) in meiner Muttersprache, dem Deutschen. Ob Übersetzungen zustandekommen oder nicht, ist mehr oder weniger Glückssache. Zwar sind mehrere meiner Bücher in verschiedene Sprachen übertragen worden, aber nur ein einziges (nämlich die Affektlogik) auch ins Englische.[2] Eine Rolle spielt dabei, dass wegen der weltweiten Dominanz des Englischen Übersetzungen aus dem Englischen in alle möglichen anderen Sprachen sehr viel leichter zustande kommen als umgekehrt.
Und schließlich ist für mich für Intimeres – darunter beispielsweise auch die Psychotherapie – nicht einmal das Hochdeutsche, sondern meine eigentliche Muttersprache, das Berndeutsche optimal, diese manchmal als grob verschriene, in Wirklichkeit aber enorm blumige, wortschöpferische und untergründig auch sehr humorvolle Dialektsprache ohne festgelegte Schrift. Wer weiß denn schon, dass eben dieses Reichtums wegen zwei Berner Altphilologen es gewagt haben, Homers ganze »Ilias« und »Odyssee« ins Berndeutsche zu übertragen – und damit, wie ich anhand einer kürzlichen Neulektüre feststellen konnte, die klassisch hochdeutschen Übersetzungen bei Weitem in den Schatten stellen?[3] Und wie köstlich weiß zum Berner Bänkelsänger Mani Matter, dessen Lieder vierzig Jahre nach seinem Tod noch von Jung und Alt gesungen werden, die Finessen des Berndeutschen zu nutzen – zum Beispiel, wenn er in „E Löl, e blöde Siech, e Sürmu u-ne Glünggi“ (ungefähr: „Ein Dummkopf, ein blöder Kerl, ein Griesgram und ein Tolpatsch“) die Bedeutungsnuancen von vier geläufigen berndeutschen Schimpfwörtern gegeneinander ausspielt.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.
[1] Ciompi, L., Lai, G-P. (1969). Depression et vieillesse. Etudes catamnestiques sur le vieillissement et la mortalité de 155 anciens patients dépressifs. Bern u. Stuttgart: Huber.
[2] Ciompi, L. (1988). The psyche and schizophrenia. The bond between affect and logic. Cambridge/Mass. a. London/GB: Harvard University Press.
[3] Meyer A. (1960): Homer Bärndütsch, Odysse, Francke Bern. Gfeller W. (1981): Homer Bärndütsch, Ilias, Francke Bern.