Mein Weg mit der Schizophrenie – Schreiben und Wandern

Schreiben ist für mich schon immer eine Art von Passion gewesen. Bereits in der Sekundarschule, und vor allem dann im Gymnasium schrieb ich sehr gern Aufsätze, zuweilen auch kleine Geschichten oder Gedichte. In der Adoleszenz wähnte ich mich gar eine Zeit lang, von Rilke, Hesse und Thomas Mann schwärmend, zum Schriftsteller oder Dichter berufen. Doch kaum, dass ich nach dem Abitur dann tatsächlich ein Literaturstudium begonnen hatte, so wurde mir über der scheinbaren Beliebigkeit und Uferlosigkeit der Geisteswissenschaften richtiggehend schwindlig. Ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und wechselte nach knapp einem Semester fluchtartig zur Medizin.

Zu Recht? Wer kann das wissen? Was wäre aus mir geworden, wenn ich damals mehr Ausdauer gezeigt und dann – vermutlich – auch in der Literatur allmählich Tritt gefasst hätte? Jedenfalls bereue ich meine Kehrtwende nicht. Die Naturwissenschaften, die Medizin und darin dann vor allem die Psychiatrie haben mich reich beschenkt und entschädigt. Obwohl natürlich auch sie mein ständiges Fragen nach dem Menschen und dem großen Ganzen nicht zu stillen vermochten.

Allerdings dachte ich mir insgeheim schon damals, dass sich meine Freude am Schreiben, wenn dies denn meine Bestimmung wäre, so oder so irgendwie durchsetzen würde. Und tatsächlich griff ich in der Folge insbesondere dann immer wieder zur Feder, wenn ich quälende Unklarheiten schreibend überwinden oder plötzlich erlangte Klarheiten schwarz auf weiß festhalten wollte. So füllten sich im Lauf der Jahre Tausende von Seiten mit Notizen, bald mehr wissenschaftlicher und bald mehr persönlicher oder im weiten Sinn philosophischer Art, die in der Folge mehrfach zum Nährboden für größere Buchprojekte wurden. Im Buch »Außenwelt – Innenwelt« habe ich Auszüge aus diesen Notizen sogar direkt in meine Texte eingebaut.[1]
Obwohl kein Schriftsteller aus mir geworden ist, ist Schreiben für mich doch so etwas wie ein Lebenselixier geworden. Ich feile gern wochenlang an schwierigen Texten herum, suche tagelang nach einem passenden Ausdruck oder Wort, und empfinde die Freude, wenn ein kleiner Passus oder auch ein größeres Werk dann endlich befriedigend zur Sprache gebracht (und damit auch »mitgeteilt«, das heißt mit einem potenziellen Leser geteilt) ist, immer neu als ein beglückendes Fallen in eine Stimmigkeit.

Schreiben ist auch eine Art von Gehen oder Wandern. Man fängt irgendwo an, ist dann lange bei wechselndem Wetter unterwegs und kommt schließlich, wenn alles gut geht, müde, aber glücklich, am Ziel an.
Meine andere Passion ist in der Tat das Wandern. Wie viel bin ich doch immer wieder gewandert, bald in den Bergen oder am Meer, mehrfach in Umbrien oder auf Kreta, immer wieder in meinen geliebten Calanques zwischen Marseille und Cassis, und noch in den letzten Jahren, soweit mein Hinkebein dies zuließ, in Etappen auf dem Jakobsweg quer durch die Schweiz von Konstanz bis nach Genf. Meist allein, manchmal auch in Gesellschaft, aber immer berückt vom Zauber des langsamen Vorankommens und Schauens und Entdeckens auf neuen oder auch altbekannten Wegen.

Schreiben und Wandern ergänzen sich vorzüglich. Fuß- und Denkwege haben viel Gemeinsames: Hier wie dort gibt es schwierige Passagen, unverhoffte Abkürzungen, Umwege und Holzwege. Nicht selten löst sich ein mühsamer Schreibknoten im langsamen Rhythmus des Gehens wie von selbst auf, oder es kommt plötzlich eine treffende Wendung, ein guter Übergang oder ein überraschender Durchblick in Sicht.

Erst jetzt ist mir klar geworden, dass meine Schreib- und Denklust seit jeher auch im Dienst der Identitätsbefestigung stand. Dies und jenes habe ich erlebt, getan oder gedacht, diese Stellung bezogen und jene abgelehnt: Das bin ich. – Im Hintergrund rumort offenbar selbst noch im hohen Alter die ewige Kindheits- und Jugendfrage in meinem Kopf herum, wer ich eigentlich bin, wo ich hingehöre und was ich hienieden zu suchen habe.

Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.

 



[1] Ciompi, L. (1988). Außenwelt – Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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