Ungerecht zweifellos, aber dieses bittere Gefühl befällt mich unweigerlich noch heute jedes Mal, wenn ich an meinen Vater denke: dieser windige Kerl! Obwohl doch meine italienische Großmutter und Papas Schwester Leda immerzu bloß von seiner hohen Intelligenz und Güte und von der unendlichen Verehrung gesprochen hatten, die seine Patienten wegen seines unermüdlichen ärztlichen Einsatzes für ihn empfunden hätten. Und sogar meine Schwester Lill hat von unserem Vater vor allem das Bild eines sehr lieben und freundlichen Menschen im Gedächtnis bewahrt.
Dennoch: Meine letzte und zugleich prägnanteste Erinnerung an ihn, aus meinem fünften Lebensjahr stammend, ist, wie er, als meine Mutter finster entschlossen um drei Uhr morgens mit Lill und mir in Mercatino Conca aufbrach, um den Autobus nach Rimini und von dort den Zug in die Schweiz zu besteigen und nie mehr zurückzukehren, eine Zigarette im Mundwinkel schlapp im Doppelbett des spärlich erleuchteten Elternschlafzimmers liegen blieb und zum Abschied bloß schwächlich murmelte: „Meinethalben könnt ihr ja gehen, wenn ihr bloß wieder zurückkommt“.
Mein Vater, der Faschist
Und Faschist ist er auch gewesen, ein geschniegelter mit brillantinegeglättetem Schwarzhaar. Schon als Fünfzehnjähriger soll er an Mussolinis berühmt-berüchtigtem „Marsch auf Rom“ teilgenommen haben, der im Oktober 1922 zur Machtübernahme durch die Faschisten geführt hatte. Einmal schenkte er mir gar eine schwarze, mit einem goldenen Doppeladler geschmückte Balillamütze (die Balillas waren eine faschistische, der Hitlerjugend vergleichbare Jugendorganisation) und versprach mir dazu noch ein Schwarzhemd genauso wie es einige Jungen im Dorf trugen. Nie vergessen werde ich auch, was er mir auf der Fahrt im Fiat Topolino zu einem Patienten hoch in den Bergen oberhalb von Mercatino erklärte, zu der er mich – ich war etwa fünf – zu meiner Freude mitgenommen hatte: nämlich dass ich mich ohne Zögern kopfvoran in das riesige ausgetrocknete Bachbett des Flusses Conca neben unserem Haus zu stürzen hätte, wenn Mussolini dies befehlen würde. Und in einem viele Jahre später von Tante Leda in Pontedera erhaltenen und auf der Zugfahrt zurück in die Schweiz geöffneten Paket mit alten Briefen Papas an seine Mutter entdeckte ich ein Schreiben über allerhand lokale Opponenten gegen seine erhoffte Übernahme des Postens in Mercatino. Es war gespickt mit dunklen Andeutungen, man müsste denen halt mal die Schwarzhemden mit Rizinusöl auf den Pelz schicken, um ihren Widerstand zu brechen (eine beliebte Kampfmethode der italienischen Faschisten war bekanntlich, ihren Gegnern gewaltsam große Dosen von Rizinusöl einzuflößen, was bestenfalls zu schweren Durchfällen oder, schlimmstenfalls, sogar zu einem qualvollen Tod führen konnte.) Vor Scham und Wut schmiss ich diesen Brief damals kurzerhand zum Fenster des fahrenden Zuges hinaus.
Düstere Pläne
Ebenso wenig glorreich ist die schon erwähnte Tatsache, dass Papa nach den Enthüllungen, die seine Schwester Leda mehrfach gegenüber Lill gemacht hatte, uns lange durch Jesuiten in der Schweiz hatte ausspionieren lassen und 1940 einen sehr konkreten Plan gefasst hatte, um Lill und mich nach Pontedera zu entführen. Manches von Mammas merkwürdigem und immer nur ihrer Verrücktheit zugeschriebenem Verhalten um diese Zeit – mit Einschluss ihrer abrupten Flucht nach Grindelwald und ihrer ständigen Angst, wir könnten auf dem Schulweg gekidnappt werden –, erscheint vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht: Bei einem guten Teil ihrer ganzen als „schleichend schizophren“ abgestempelten Verhaltens dürfte es sich in Wirklichkeit um die depressiven Reaktionen einer starken und sicher seltsam rigiden, aber auch feinfühligen, verletzlichen und aus guten Gründen verängstigten Frau auf Erlebnisse gehandelt haben, die wohl nicht nur sie überfordert hätten.
Ungeklärte Familientabus
Zu einer Problematisierung der Figur meines Vaters und gleichzeitigen Relativierung von Mammas Krankheit passt ebenfalls, dass mir meine italienische Großmutter Delfina, eine strenge und gradlinige, mir immer ein wenig aristokratisch vorkommende Toskanerin, zum Verhalten Mammas, so befremdlich dieses zeitweise auch gewirkt hätte, mehrfach ernsthaft versichert hat, „la Klary“ (von „Clara“) sei in allem, was sie getan habe, voll zu respektieren. Was genau sie damit sagen wollte, hat sie freilich nie präzisiert. Vermutlich spielte sie dabei nicht nur auf Mammas Flucht in die Schweiz, sondern auch auf eine frühere und ähnlich abrupte Reise nach England an, die gemäß Tante Ledas Angaben im Zusammenhang mit der Affäre zwischen Papa und einer nahen Verwandten Mammas zur Zeit von Mammas zweiter Schwangerschaft und Entbindung stand. Verhüllte Hinweise auf diese Affäre fanden sich auch in den genannten Briefen Papas an seine Mutter. Fest steht jedenfalls, dass Papa in Frankfurt am Main, wo er als Student um 1930 für einige Monate zu einem Studienaufenthalt weilte, diese Schweizer Verwandte einmal heimlich getroffen hat. Und Mammas damals knapp zwanzigjähriger Bruder Gottfried – unser geliebter „Unggi“, der für Lill und mich zeitweise eine Art von Vaterrolle gespielt und vorher mit Papa jahrelang eine freundschaftliche Beziehung unterhalten hatte – soll darüber in eine derartige Wut geraten sein, dass er gedroht habe, nach Italien zu reisen, um den Schwager mit seiner Offizierspistole zu erschießen. Wie viele vor Lill und mir von jedermann jahrzehntelang sorgsam gehütete Geheimnisse, wie viele nie geklärte Familientabus! Genug, um unserer sensiblen Mutter viel, unendlich viel zu denken zu geben. Und vielleicht genug, um sie mit der Zeit richtiggehend verrückt zu machen.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.