Ich bin – leider – weder ein „g’studierter Philosoph“ (wie wir hierzulande sagen) noch Theologe. Dennoch haben mich schon von klein auf die gleichen Grundfragen ständig beschäftigt, die sie sich seit jeher auch professionelle Denker stellen: Wer und wo bin ich? Wo komme ich her und wo gehe ich hin, und wie und warum und mit welchen Zielen? Und ebenfalls: Was kann ich eigentlich wissen und erkennen, oder vielmehr: Kann ich überhaupt irgendetwas sicher wissen? Und wie steht es mit dem Glauben? An einen Gott, an die Natur, oder an was sonst?
Warum die Frage, wer ich bin?
Vielleicht weil ich während meinen ersten fünf Kindheitsjahren aus Gründen, die mir noch heute nur teilweise klar sind, alle paar Wochen oder Monate zwischen Italien und der Schweiz – oder genauer gesagt: zwischen der Toskana und dem Emmental – hin- und hergeschoben wurde und deshalb nie recht wusste, wer ich war und welcher dieser beiden gegensätzlichen Welten ich eigentlich angehörte. War ich Italiener oder Schweizer? Gehörte ich eher zum (meist abwesenden) italienischen Vater und seiner ebenfalls kaum je präsenten Familie, oder zu der für mich schon immer irgendwie unheimlichen „Mamma“ aus der Schweiz? An keinem ihrer ständig wechselnden Aufenthaltsorte, von Pontedera, Florenz, Pisa, Rimini, Riccione und Cattolica bis Mercantino Conca (ein kleines Nest in der Provinz Pesaro, wo mein Vater eine Zeit lang als Gemeindearzt oder medico condotto tätig war), zwischen denen diese Mamma meine Schwester und mich ständig hin- und herschleppte, hatte ich Wurzeln schlagen können. Oder war ich eigentlich in der zwar immer gleich behäbigen, aber wegen der ungewissen Dauer meiner dortigen Aufenthalte dennoch unbeständigen Schweizer Dorfwelt von Worb am Rand des Emmentals zu Hause – bei der liebevollen Großmutter (die bezeichnenderweise sogar die Angestellten nur „ds Muetti“ nannten), den vielen gemütlichen Grotanten und dem geschäftigen Onkel Gottfried (dem „Unggi“) und seinen freundlichen Angestellten im Käseexportgeschäft, dessen Leitung er nach dem plötzlichen Herztod seines Vaters als Zwanzigjähriger hatte übernehmen müssen?
Für die Worber Dorfjungen (und sicher auch für manche Erwachsene) blieb ich lange – bis ich schließlich Mittel und Wege fand, ihnen zu imponieren – bloß der „Tschinggu“, ein vom italienischen cinque („fünf“) abgeleiteter Spottname für Italiener. In Italien dagegen galt ich (wenn ich überhaupt irgendetwas galt, denn ich hatte außerhalb der Familie ja praktisch keine Kontakte) als der Fremde, lo Svizzero. Es war eine höchst prekäre Situation, die mir indessen, wie mir erst viel später bewusst wurde, auch mancherlei Gewinn eingebracht hat: Ich musste mich immer wieder neu anpassen; ich musste ständig umlernen, nicht nur sprachlich, sondern ebenfalls im ganzen Lebens- und Umgangsstil, und wurde dadurch wahrscheinlich schon früh besonders wendig und eigenständig, sowohl in meinem krausen kindlichen Denken wie bald einmal, gezwungenermaßen, auch im Handeln.
Doppelte Sprache
Denn bei den Erwachsenen fand ich, wie mir im Rückblick scheint, kaum Hilfe, eher im Gegenteil. Ihr Verhalten verwirrte mich zusätzlich – so wie etwa jener Büroangestellter meines Onkels, der mich jedes Mal, wenn ich aus Italien wieder in Worb eintraf, zu fragen pflegte, wo es mir besser gefalle: in Italien oder der Schweiz? Als ich einmal ganz wider seine Erwartung antwortete: „in Italien“, nahm er mich bedeutungsvoll beiseite und erklärte mir, dass ich, um gut angeschrieben zu sein, in der Schweiz immer sagen müsse, hier gefalle es mir am besten, während ich in Italien das Gegenteil versichern solle.
Eine Welt brach in mir zusammen, hatte man mir doch beigebracht, dass Lügen eine Sünde sei. Dass ein so respektabler Erwachsener wie der Angestellte meines Onkels mich unverblümt dazu aufforderte, die Unwahrheit zu sagen, gab mir unendlich zu denken: Offenbar sprachen die Erwachsenen eine doppele Sprache. Wie sollte ich denn einem bisher als Freund eingestuften Menschen noch trauen, wenn er mich gleichzeitig zum Lügen anstiftete?
Denkwürdige Erlebnisse
Ein ganz anderes Erlebnis aus jener Zeit, das mir bedeutsam scheint, war die Entdeckung, dass Schmerz wie durch Zauberei verschwinden kann: Auf den parkartigen Wegen rund um die herrschaftliche Jugendstilvilla in Worb, wo ich unter der Obhut von Onkel und Großmutter meine kurzen Schweizer Aufenthalte verbrachte, waren zwei Arbeiter im Begriff, grobkörnigen Kies zu verteilen, auf dem barfuß zu gehen äußerst schmerzhaft war. Dennoch wagte ich mich einmal, baren Fußes vorsichtig auf den Kieselsteinen balancierend, bis zur Straße beim Parkeingang vor, wo ein paar Jungen meines Alters herumstanden, mit denen ich gerne Kontakt aufgenommen hätte. Doch kaum war ich in ihre Nähe gelangt, so fingen sie an mich zu hänseln und drohten sogar, mich zu verprügeln, wenn ich mich nicht schleunigst aus dem Staube mache. Worauf ich in gestrecktem Galopp voll Angst über den ganzen Kiesplatz bis zum sicheren Hauseingang fegte – und erst dann mit Staunen bemerkte, dass meine Füße das grobe Kies ja überhaupt nicht gespürt hatten.
Dieses überraschende Erlebnis hat sich mir wohl nicht nur deshalb tief ins Gedächtnis eingegraben, weil dabei zum ersten Mal in mir eine Spur von Stärke und Robustheit statt der gewohnten Schwächlichkeit zum Vorschein kam. Es führte mir auch erstmals drastisch vor Augen, dass die Wahrnehmung ein- und derselben Wirklichkeit je nach Gefühl und Situation sehr stark variieren kann.
Dazu kommen mir grad noch die farbigen Fensterscheiben auf dem Balkon des Hofmatt-Stöcklis[1] in der Nähe unseres Hauses in den Sinn, durch die ich bei meinen gelegentlichen Besuchen bei zwei alten Schwestern mit immer neuem Staunen die Welt in radikal verschiedenen Färbungen und Stimmungen wahrnehmen konnte. In Blau bekam sie etwas Feenhaftes, in Grün etwas merkwürdig Verzerrtes, und in Rot fast etwas Unheimliches.
Ich glaube, nicht fehlzugehen, wenn ich in diesen schon damals sehr bewusst bedachten Erlebnissen erste Keime zu meiner viele Jahrzehnte später entwickelten Theorie der Affektlogik vermute.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.
[1] Ein „Stöckli" ist eine kleine Alterswohnung, die im Emmental traditionell neben den großen bernischen Bauernhöfen steht.