Bald ist Schluss – in einem Jahr, in fünf oder zehn Jahren, langsam oder ganz unvermittelt. Wie um ein Haar bei jenem überraschenden Zwischenfall vor einigen Jahren, als ich an einem Geburtstagsfest im Schloss Siders spätabends auf dem Gang zwischen Toilette und Festsaal ohne Vorwarnung für zwanzig Sekunden in Ohnmacht fiel, schwer stürzte, mit dem Kopf gegen einen gewaltigen Eichenholzschrank prallte und mir dabei den lebenswichtigen „Zahn“ des ersten Halswirbels brach, um den sich der Kopf dreht.
„Den Wirbel des Gehenkten“, wie mir später mein Schwager, Osteopath von Beruf, grinsend erklärte, als ich ihm, für sechs Monate mit einer riesigen Halsschutzkrause versehen, diesen Zwischenfall erzählte.
Ganz in Ordnung dies alles, dachte ich damals und denke ich auch noch heute. Ich bin nach wie vor ganz einverstanden mit Tod und Sterben. Welche soziale und demografische Katastrophe, wenn wir alle ewig leben würden! Ich jedenfalls möchte nicht unbegrenzt weiterleben – höchstens noch ein kleines Weilchen, noch ein paar Jährchen vielleicht, bis, sozusagen, „das Meine“ getan ist.
Was ist „das Meine“?
Aber wann und wie kann ich denn wissen, dass das Meine getan ist? Gibt es dieses „Meine” überhaupt? Und wenn ja, was ist es?
Der Sinn eines jeden Menschenlebens besteht meines Erachtens darin, dass jeder an seiner Stelle mit je seinen Fähigkeiten, ganz gleich ob klein oder groß, nach bestem Wissen und Gewissen „das Seine“ zu tun, das heißt in diejenige Richtung zu wirken versucht, die er für die richtige hält. Aus all diesen Einzelrichtungen wird sich folgerichtig die Richtung des Ganzen ergeben – zum Guten oder zum Schlechten, je nachdem, was überwiegt.
Insofern habe ich, so glaube ich, „das Meinige“ einigermaßen getan, oder doch zu tun versucht. Die Frage der Folgerichtigkeit ist schwieriger zu beantworten. Zwar erscheint mir mein Lebensweg, von der praktisch vaterlosen und mit einer psychotischen Mutter belasteten Kindheit bis zum Medizin- und Psychiatriestudium und dem schließlichen Schwerpunkt in der Schizophrenieforschung und -behandlung recht folgerichtig, ob er aber auch erfolgreich war, kann man unterschiedlich beurteilen. Durch jede Wirklichkeit lassen sich unzählige Wahrheitssysteme konstruieren, je nachdem, wie man hinschaut, lautet eine der zentralen Erkenntnisse der Affektlogik.[1] Wohlwollend positiv betrachtet war mein Leben reich, intensiv und in mancher Hinsicht auch erfolgreich, wenn ich mich bescheiden will. Hinsichtlich der nach wie vor eher unbefriedigenden Rezeption der Affektlogik mag ich mich mit dem Gedanken trösten, dass vielleicht das letzte Wort in dieser Sache noch gar nicht gesprochen ist. Unbarmherzig negativ könnte man mein Leben indessen zum Beispiel im Rahmen eines einseitig defizitorientierten psychiatrischen Gutachtens auch als gescheitert oder doch geschädigt betrachten: eine wirre, durch Ungeborgenheit, gehäufte Beziehungsabbrüche und ständige versteckte Schamgefühle geprägte Kindheit ohne konsistente Leitfiguren, mit entsprechenden Folgeschäden in Form von verminderter Liebes- und vielleicht auch Trauerfähigkeit, kompensiert durch ausufernde intellektuelle Wucherungen…
Meine eigene Wahrheit, wie ich sie überwiegend empfinde, liegt irgendwo dazwischen: weder wirklich gescheitert noch voll gelungen – eben von beidem etwas, eben „durchschnittlich unzulänglich“, und somit genau das, was sich für einen Durchschnittsmenschen gebührt.
Dennoch gibt es zumindest ein großes Positivum, das mir jeder Relativierung zu widerstehen scheint: Nämlich, dass mein Leben ein Beispiel ist für eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit und Resilienz trotz widriger Ausgangsbedingungen. Ein Erbgut, ein Schicksal, eine Kindheit mag noch so mies sein, so bedeutet das doch noch lange nicht, dass alles schlecht herauskommen muss. Das ist vielleicht die wichtigste Lehre, die man aus meinem Leben ziehen kann. Und ich hoffe, dass sie auch für manche Leserinnen und Leser tröstlich ist, die ebenfalls viel Schweres oder noch weit Schwereres erfahren haben als ich.
Es denkt in mir
Nicht ich denke, so kommt es mir immer wieder vor, sondern „es“ denkt wie von selbst in mir immer weiter und weiter – eigentlich schon seit Jugendzeiten und während meines ganzen Lebens. Besonders in der Nacht, wenn ich oft stundenlang wachliege, ohne dass mich dies weiter stört, denkt „es“ über alles Mögliche nach: über mich selbst und über Gott und die Welt, über das Tagesgeschehen, über Menschen und aktuelle oder vergangene Begegnungen. Über Schizophrenie, Affektlogik und über das große Ganze, von dem ich mich als ein winziges und doch irgendwie mitbeteiligtes Teilchen fühle. Und nicht selten auch über die Frage, wieso mir meine so schwierige Kindheit fast ohne Vater und Mutter offenbar nicht sonderlich geschadet hat – eher im Gegenteil, so will es mir oft scheinen.
Meine früh erwachte Denklust hat sicher viel mit dieser wirren Kindheit und dem daraus offenbar recht folgerichtig hervorgegangenen Lebenslauf zu tun. Stetes Bedürfnis, sowohl allerhand Einzelnes wie auch dieses Ganze irgendwie zu fassen, in einen größeren Zusammenhang oder doch auf den Punkt zu bringen, im dunklen Gefühl, dass sich hinter dem ganzen Durcheinander eine Art von Sinn oder zu schreiben Signifikanz verberge. Versuche, alle die vielen Fäden, an denen ich schon immer gesponnen habe, noch einmal zu sichten, zu bündeln und da und dort noch ein Stückchen weiterzuführen. Wobei sich Persönliches und Allgemeines, Subjektives und Objektives in den Fragen, um die es mir in erster Linie geht, nicht scharf voneinander trennen lassen, sondern zusammengehören, weil sie sich wechselseitig bedingen, weil das Eine aus dem Anderen hervorwächst, und weil auch alles „Objektive“ letztlich nichts als ein intersubjektives Konstrukt ist, das von einer bestimmten Warte und in einem gewissen Moment von gewissen Menschen übereinstimmend „für wahr genommen“ wird.
Zweifellos aber gibt es ein großes Ganzes – die Summe all dessen, was ist und wirkt, einen Gesamtzusammenhang, auch wenn wir ihn, wenn überhaupt, nur in Bruchstücken zu erkennen vermögen. Streng genommen ist dieses große Ganze sogar die einzige Realität, von der wir mit Sicherheit wissen: Zweifellos übertrifft die Summe all dessen, was wir nicht wissen, die Summe unseres Wissens um ein Vielfaches (deshalb ja auch die immer fieberhaftere Forschung nach allen Richtungen). Die einzige echt wissenschaftliche Haltung ist es also, sich sowohl dieses großen Ganzen wie auch unseres unermesslichen Nichtwissens darüber ständig bewusst zu bleiben.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.
[1] Ciompi, L. (1982). Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Ermutigende Worte
Danke dass Sie ihre Gedanken teilen und mir dadurch mögliche neue Wege aufgetan werden! C.Ballmann
mutig und offen
ein toller Beitrag: inspirierend, ehrlich, ideenreich und in einem selber viel anstoßend: vielen dank, M.Krüger