Mein Weg mit der Schizophrenie – Altersgedanken zu Tod und Sterben

Ich lebe immer noch! Das ist für mich in meinem neunzigsten Lebensjahr das Erstaunlichste. Doch trotz meines hohen Alters habe ich noch nicht alle Antworten gefunden, ich bin weiterhin auf der Suche. Ich verstehe mich als Erforscher und ins Soziale und Weltanschauliche ausufernder Überdenker des Zusammenspiels von Fühlen und Denken. Dass dies nicht erst seit kurzem so ist, zeigen mir meine „Altersgedanken zu Tod und Sterben“[1], die mir erst heute wieder in die Hände gefallen sind und mit denen ich auch nach 13 Jahren, die seit ihrer ersten Veröffentlichung vergangen sind, noch vollständig übereinstimme:

Gottlob können wir sterben
Evolutionär gesehen gilt der Tod als überaus sinnvolle und geradezu geniale Erfindung: Erst das Verschwinden des Alten macht, bei aller genetischen Fortdauer des Bewährten, die Anpassung eines immer wieder jungen Lebens an eine sich ständig verändernde Umwelt möglich. Man stelle sich bloß vor, wie verheerend die Situation wäre, wenn wir unsterblich wären: Alle Alten wären immer noch da und im Weg – nicht nur Hitler, Sokrates, Nero, Goethe, sondern auch die ganze Masse von gewöhnlichen Menschen, immer größer und erdrückender. Eine schreckliche Vision! Wie wir die Sache auch drehen und wenden, es ist sehr gut, dass wir alle sterben können – und folglich ist es auch ganz in Ordnung, dass ich selbst bald einmal sterben werde.

Glücklicherweise leben wir nicht zweihundert Jahre
Hier beginnen freilich die Widersprüche: Ich möchte ganz gern noch ein paar Jahre leben. Dieser Wille zum Leben um jeden Preis ist gewiss sinnvoll und evolutionär verankert. Genauso sinnvoll sind indes die dem individuellen Lebenswillen von der Natur gesetzten Grenzen. Mit anderen Worten: Den ewigen Menschheitstraum von der Langlebigkeit über jedes „biblische Maß“ hinaus halte ich für gefährlich. Schon die auf siebzig bis achtzig Jahre angewachsene durchschnittliche Lebenserwartung schafft bekanntlich zunehmend große demografische, psychologische und nicht zuletzt wirtschaftliche Probleme. Wie soll das erst werden, wenn die Lebensdauer einmal auf 120, 150 oder gar zweihundert Jahre verlängert werden kann? Es wäre verheerend in fast jeder Hinsicht, entgegen allen unrealistischen Heilserwartungen, die uns eine fortschrittsgläubige Science-Fiction vorgaukeln will.

Der „Skandal des Todes“ und die angebliche Angst vor dem Nichts
Doch lassen wir die ungewisse Zukunft und wenden wir uns der Realität zu: Der gewisse Tod und damit das „Verschwinden ins Nichts“ sei ein unerträglicher Skandal, soll sogar der eingefleischte Atheist und Existentialist Jean-Paul Sartre reklamiert haben. Aber was ist eigentlich an diesem Verschwinden so furchtbar? Macht nicht gerade der Tod das Leben zu einem ungeheuer wertvollen Geschenk? Soll ich für dieses Geschenk denn nicht nur dankbar sein, sondern es auch noch auf ewig festhalten wollen? Festhalten über alle Spuren hinaus, die noch der Geringste unter uns automatisch hinterlässt, denn im geistigen Sinn geht ja nichts, gar nichts je völlig verloren. Was immer ich war und tat, im Guten wie Bösen, wirft eine Zeit lang seine kleinen oder größeren Wellen, die alle früher oder später in die anonyme Solitärwelle des Gesamtgeschehens einmünden. Ist das denn nicht genug? Meines Erachtens langt dies vollkommen. Ich möchte keine ewige Bleibe noch Jugend (um Gottes willen), und vor dem Eingehen in ein „Nichts“ verspüre ich keinerlei Angst.

Lob des Alters
„Wer das Alter lobt, der hat ihm nicht ins Antlitz geschaut“, zitierte mein geschätzter Berufskollege Paul Parin in einem Interview den italienischen Philosophen Norberto Bobbio.[2] Es stimmt natürlich, dass das Alter unausweichlich mit Beschwerden und Verlusten bis hin zum Tod einhergeht. Wohl am schwersten zu ertragen sind Krankheit, Schmerz und Vereinsamung. Aber ich kenne nicht wenige Menschen, mit Einschluss meiner selbst, die das Alter über weite Strecken auch als eine faszinierend reiche Zeit voller Neuheiten und Überraschungen erleben. Was allein doch schon die – vielen vergönnte – Großelternrolle mit sich bringt an ungeahnten Möglichkeiten des Lebens und Liebens! Nicht unähnlich ist die Rolle, die man als offizieller oder inoffizieller Beichtvater, Coach oder Supervisor spielen kann. Wer noch einigermaßen gesund ist, genießt das großartige Altersgeschenk der Freiheit, tun oder lassen zu dürfen, was man mag. Auch bei Klassen- und Jahrgangstreffen, im Alpenklub, im Freundes- und Bekanntenkreis trifft man immer wieder auf Menschen, die das einseitig negative Bild vom Alter Lügen strafen: so etwa der 87-Jährige, der auf unseren Skitouren vom Schweizer Alpen-Club SAC noch immer manch Jüngeren überholt. Oder die 85-jährige Malerin, die trotz vielerlei Gebrechen seit dem Tod ihres Mannes kreativ wie nie zuvor die Welt bereist.


Ein einzigartiges Geschenk
Ein einzigartiges Geschenk sind überhaupt die vielen Lebens- und auch Sterbensgeschichten, auf die man vom Beobachtungshochsitz des Alters aus zurückblicken kann. Nicht wenige haben bei aller Tragik zugleich auch etwas Tröstliches: so mein tief gläubiger und bis zuletzt heiterer, ehemaliger Patient und Kollege, der an einer chronischen Nervenkrankheit zugrunde ging und trotz heftigster Schmerzanfälle partout keine Analgetika wollte, um „seinen Anteil am unendlichen Leiden der Welt zu leisten“. Die Tochter meines Freundes, die 37-jährig eines fulminanten Darmkarzinoms wegen von Mann und zwei kleinen Kindern hinwegstarb und doch Angehörige und Mitpatienten auch noch im Sterbehaus wirksam zu trösten wusste. Ähnlich meine mit 56 Jahren verstorbene Cousine, die trotz kaum erträglichen Krebsschmerzen bis zuletzt ihr Morphin immer wieder reduzierte, um ihre gesteigerte Sensibilität für Menschen, Farben und Töne zu bewahren.

Schreckgespenst Alzheimer
Das Allerschlimmste ist für viele Menschen die Vorstellung, dereinst alzheimerkrank zu werden. Nur niemandem zur Last fallen! Nur nicht in entwürdigender Weise körperlich abhängig werden und zugleich das kostbarstes Gut, nämlich Verstand und Gedächtnis verlieren! Aber gehört denn der körperliche wie psychische Abbau nicht genauso zum Leben wie der Aufbau? Und sind wir nicht von der Wiege bis zur Bahre in weit größerem Ausmaß von anderen Menschen abhängig – von ihren Dienstleistungen, ihrer Arbeit, ihrer Liebe und Anerkennung –, als wir dies für gewöhnlich wahrhaben wollen? Der Mensch ist ein Herdentier; Kinder, Kranke und Alte bedürfen der Hilfe der Gemeinschaft.

Ich habe seinerzeit das Innenleben von Alzheimerkranken – unter anderem mit der psychoanalytischen Methode der freien Assoziation – zu erforschen versucht.[3] Auch dort bin ich zu recht überraschenden Schlüssen gelangt: Diese Menschen sind meist keineswegs todunglücklich. Sie leben, von gelegentlichen Irritationen abgesehen, entweder heiter ganz im Hier und Jetzt – eigentlich doch genau das, was manche Esoteriker anstreben – oder in einem traumartigen Nebel, in den sinnbefrachtete Fragmente des eigenen Lebens hell oder dunkel hineinragen. „Lebensunwertes Leben“? Wer darf sich denn ein Urteil anmaßen, wo Sinn und Wert doch primär von den Umständen, zumal der Beziehungssituation abhängen? Mir jedenfalls erscheint das Leben von Alzheimerpatienten, genauso wie das Leben anderer psychisch Kranker und Behinderter, als mindestens ebenso wertvoll wie dasjenige von – um es provokant auszudrücken – Schoßhündchen oder Kanarienvögeln, um die wir ein vergleichsweise schockierendes Getue machen.

Natürliches versus manipuliertes Sterben...
Sehr beeindruckt hat mich auch die Geschichte des alten Knechts aus unserem Feriendörfchen im Wallis, der, obwohl ganz gesund, eines Herbsts erklärte, nun komme sein letzter Winter, dann tatsächlich zunehmend schwächer wurde, bis er sich am Palmsonntag im Sonntagsstaat aufs Bett legte, Angehörige und Dorfgenossen kommen ließ, einem nach dem anderen zum Abschied die Hand reichte und in der folgenden Nacht friedlich verstarb – ein „natürliches Sterben", das früher in diesem Bergtal nichts Außergewöhnliches gewesen sein soll.

Was freilich heutzutage ein natürlicher Tod wäre, ist angesichts der fast unbegrenzten Möglichkeiten der modernen Medizin zwischen den Polen der monate- bis jahrelangen Verlängerung vegetativen Lebens (wie etwa beim früheren israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon, der bekanntlich nach seinem im Jahr 2006 erlittenen Schlaganfall im Koma noch acht Jahre lang künstlich am Leben erhalten wurde) und der schleichend überhandnehmenden „ärztlichen Sterbehilfe" schwer zu sagen. Beide stürzen viele Menschen, mich selbst inbegriffen, in kaum lösbare Konflikte zwischen tiefverwurzelten Hemmungen vor der wohl gefährlichsten aller Grenzüberschreitungen und ebenso tiefem Mitgefühl mit qualvoll Leidenden. Das Lausanner Unversitätsspital hatte als erstes Schweizer Spital einen besonderen Raum für den ärztlich assistierten Freitod eingerichtet. Es gibt auch „Betagtenkurse“ zu diesem Thema. Und allein in meiner näheren Umgebung habe ich zwei Exit-Sterbefälle[4] miterlebt, die, obwohl rational gut verständlich, emotional doch einen seltsam bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Wie anders wirkt dagegen die für alle Beteiligen – Frau und Exfrau, Kinder und Kindeskinder, Freunde und Bekannte – bei aller Tragik doch auch zutiefst bereichernde Geschichte meines alten Bergfreundes, der dank steter Stützung durch Familie und Umwelt fünf Jahre lang seinen progredienten Parkinson mit großer Fassung ertragen, eine Zeitlang dann im Rollstuhl und kaum noch sprech- noch essfähig einen Exit-Freitod ernsthaft ins Auge gefasst hatte, und sich schließlich doch noch dafür entschied, es ruhig „werden zu lassen". Bald darauf konnte er gelöst eines natürlichen Todes sterben.

...und das Bild von der Eigernordwand
„Niemand weiß, was die Eigernordwand ist, der sie nicht selbst durchklettert hat", sagte mir einst ein Bergführer. Ganz ähnlich ist es zweifellos mit Sterben und Tod. Wohl können und sollen wir uns zu beiden Gedanken machen. Wie man selbst aber, wenn es ernst wird, in dieser steilen Wand einmal „klettern" wird, das weiß im Voraus niemand.

Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.



[1] Ciompi, L. (2006). Altersgedanken zu Tod und Sterben. Schweizerische Ärztezeitung, 87, 51–52.

[2] Neue Zürcher Zeitung Folio 4/2006, 20–24.

[3] Ciompi, L. (1966). Freies Assoziieren im Alter. Experimentell-psychodynamische Untersuchungen. 7th International Congress of Gerontology, Vienna/Austria, 1966. Proceedings 1010, S. 247–250.

[4] Exit“ ist eine Schweizer Vereinigung für Altersfreitod.

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