Meiner Ansicht nach bedarf das systemtheoretische Verständnis von psychischen und sozialen Phänomenen, das im deutschen Sprachraum vorherrscht und (zu?) stark von den Konzepten des Soziologen Niklas Luhmann geprägt ist, in mancher Hinsicht einer gründlichen Revision und Klärung. Insbesondere was den Stellenwert von Emotionen[1] und ihre Wechselwirkungen mit den kognitiven Funktionen anbetrifft, scheinen mir die gängigen Konzepte noch zu unscharf, um praktisch wie theoretisch von großem Nutzen zu sein, wie etwa dasjenige der „emotionalen Rahmung“ von Rosmarie Welter-Enderlin[2] oder auch Fritz Simons Verständnis der Emotionen als „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“[3]. Auch das interessante neue Buch von Elisabeth Wagner und Ulrike Russinger über emotionszentrierte systemische Psychotherapien bringt in theoretischer Hinsicht meines Erachtens noch keine genügende Klärung.[4]
Sehr unbefriedigend ist, wie von mir schon einmal vor Jahren auch in einem Artikel genauer analysiert,[5] Luhmanns Behauptung, dass Emotionen, weil dem psychischen Bereich zugehörig, in der Soziologie nicht von Belang wären, abgesehen davon, dass sie zuweilen als Stör- und Alarmfaktoren wirken würden.[6] Aus meiner Sicht spielen Emotionen dagegen gerade auch im sozialen Feld eine zentrale Rolle: Von kollektiven Emotionen geschürte Konflikte und Spannungen funktionieren immer wieder als die entscheidenden Energielieferanten, welche die (von Luhmann erstaunlich wenig beachtete) Dynamik von mikro- wie makrosozialen Prozessen aller Art vorantreiben. Familienkonflikte, Massenpanik oder -begeisterung, Protestbewegungen oder Revolutionen liefern dafür spektakuläre Beispiele. Aber auch langfristige soziale Wandlungen wie etwa die jahrzehntelange allmähliche Veränderung der Rolle der Frau in der Gesellschaft werden letztlich von emotionalen Energien angetrieben. Des Weiteren sind Emotionen (wie ja auch Simon postuliert) als Medium der Kommunikation – einem eminent sozialen Phänomen – ganz unentbehrlich. Meines Erachtens gilt sogar, dass Kommunikation ohne Emotion (oder „emotionale Rahmung“) praktisch unwirksam bleibt, das heißt gar nicht in unser Denken informiert wird. Nicht zuletzt wirken positive oder negative emotionale Wertungen auch im sozialen Bereich, ähnlich wie im psychischen, als wichtigste Verhaltensregulatoren und Komplexitätsreduktoren.
Die zehn wichtigstenThesen zum Zusammenwirkenvon Emotion und Kognition
Meines Erachtens sollten die folgenden zehn Thesen zum Zusammenwirken von Emotion und Kognition systematisch in die bestehenden Theorien von psychischen wie sozialen Systemen eingebaut werden:
- Emotion und Kognition wirken in sämtlichen psychischen und sozialen Prozessen ständig in zirkulärer Weise zusammen: Bestimmte Kognitionen lösen bestimmte Emotionen aus, und bestimmte Emotionen beeinflussen alle Kognition durch spezifische Schalt- und Filterwirkungen.
- Emotionen sind umfassende, evolutionär verankerte körperlich-seelische Gestimmtheiten von unterschiedlicher Dauer, Intensität und Bewusstseinsnähe, die mit spezifischen Energien (bzw. Energieverbrauchsmustern) mit der Grundtendenz eines „Weg von“ oder „Hin zu“ gekoppelt sind.
- Kollektive Emotionen sind Emotionen, die von einer Mehr- oder Minderzahl von Angehörigen eines Kollektivs beliebiger Größe geteilt werden. Kollektive emotionale Energien können, wenn gleichgerichtet, enorme soziale Wirkungen entfalten.
- Kognitionen (wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, kombinatorisches Denken und Entscheiden) beruhen letztlich auf sensorischen Unterscheidungen beziehungsweise Unterscheidungen von Unterscheidungen von Unterscheidungen im Sinn von George Spencer-Brown.[7]
- Emotionen bestimmen die Dynamik, Kognitionen dagegen den Inhalt und die Struktur von psychischen und sozialen Systemen aller Art.
- Gleichzeitig erlebte Emotionen, Kognitionen und Verhaltensweisen werden im Gedächtnis als integrierte Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme (FDV-Programme) gespeichert, die das künftige Verhalten in ähnlichen Situationen steuern.
- FDV-Programme unterschiedlichster Größenordnung sind die grundlegenden Bausteine der Psyche. Aus dem Gesamt aller FDV-Programme ergeben sich persönlichkeits-, gruppen- und kulturspezifische affektiv-kognitive Eigenwelten.
- Sowohl einzelne FDP-Programme wie umfassende affektiv-kognitive Eigenwelten i entsprechen typischen Systemen im systemtheoretischen Sinn, deren Gleichgewicht (Homoeostase) oder Veränderung (Morphogenese) durch eine Vielzahl von positiven und negativen Rückkoppelungsmechanismen geregelt werden.
- Kritisch steigende emotionsenergetische Spannungen vermögen in FDV-Systemen und affektiv-kognitiven Eigenwelten aller Art einen plötzlichen Umschlag (eine nichtlineare Bifurkation) in ein anderes globales Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster zu bewirken (etwa von einer „Logik des Friedens“ in eine „Logik des Krieges“, von einer Alltagslogik zu einer Logik der Angst oder Wut, oder, bei entsprechender Disposition, zu einer „psychotischen Logik“).
- Zirkuläre Wechselwirkungen zwischen Emotion und Kognition sind typisch fraktal strukturiert; sie wirken selbstähnlich in psychischen und sozialen Systemen beliebiger Größenordnung.
Warum die Erweiterung des systemtheoretischen Konzeptes um Aussagen zum Zusammenwirken von Emotion und Kognition?
Alle diese Thesen basieren auf den Konzepten der Affektlogik. Diese hier näher zu begründen würde viel zu weit führen, dafür verweise ich auf meine Bücher.[8]
Dagegen möchte ich noch kurz auf eine Reihe von Vorteilen hinweisen, die eine durch diese Thesen ergänzte Systemtheorie zu bieten hätte. Vor allem würden damit die psycho- und soziodynamischen Wirkungen von Emotionen zentral in die Systemtheorie eingebaut, statt darin nur eine unklare und marginale Rolle zu spielen. Gleichzeitig würde eine praktisch wie theoretisch gleichermaßen sinnvolle Kontinuität nicht nur zwischen emotionalen und kognitiven, sondern ebenfalls zwischen psychischen und sozialen Prozessen hergestellt. Außerdem ermöglichte es die klare definitorische Unterscheidung zwischen Emotion und Kognition, sowohl affektiv-kognitive Wechselwirkungen als auch die Struktur und Funktionsweise von sozial wichtigen Begriffen, in denen beide Komponenten in schlecht geklärter Weise zusammenspielen (wie zum Beispiel Vertrauen/Misstrauen, Scham, Eifersucht und anderes mehr), besser zu verstehen: immer wieder sind darin positive oder negative Emotionen mit einem bestimmten kognitiven Objekt gekoppelt (etwa einer Person, einer Sache, einem Gegenstand). Die Schalt- und Filterwirkungen der implizierten Emotion (Wut, Angst, Freude, Trauer und so weiter) bestimmen die Art und Weise, wie uns das betreffende Objekt erscheint.
Ein weiterer Vorteil der vorgeschlagenen Konzeptualisierung ist ihre Ökonomie. Das beschriebene Zusammenspiel von Emotion und Kognition entspricht einem evolutionär entstandenen dualen Code, der imstande ist, durch die Kombination einer begrenzten Zahl von (Grund-)Emotionen mit beliebig vielen kognitiven Differenzen, eine unendliche Fülle von erfahrungsbasierten FDV-Programmen und affektiv-kognitiven Eigenwelten zu generieren, die alles Denken und Handeln in überlebensrelevanter Weise steuern. Noch ökonomischer erscheint dieser Code, wenn man gleichzeitig auch meine sogenannte Imprint-Hypothese einbezieht, die davon ausgeht, dass emotionale Komponenten bereits bei der Speicherung von FDV-Systemen im Gedächtnis eine bedeutsame bahnende und strukturierende Rolle spielen.[9] Etwas Ähnliches besagt bekanntlich ebenfalls die sogenannte Marker-Hypothese von Antonio Damasio.[10]
Praktische Implikationen dieser Konzepte sind überall dort evident, wo es primär um die Dynamik von psychischen oder sozialen Systemen aller Art geht – also zum Beispiel in Konfliktsituationen, in der Psychotherapie, in der Krisenintervention und Mediation.[11] Auch im Management, in der Unternehmensführung, der kommerziellen Werbung und der politischen Propaganda spielen die denk- und verhaltensbeeinflussenden Wirkungen von Emotionen eine wichtige Rolle. Ihre dynamische Schlüsselrolle wird denn auch auf all diesen Gebieten seit langem zunächst auf intuitiver und neuerdings auf immer raffinierter wissenschaftlicher Basis systematisch genutzt. Ein Beispiel für Letzteres sind die skandalösen Big-Data-Analysen von Facebook-Informationen durch die englisch-amerikanische Consultant-Firma Cambridge Analytics, die 2016 in der Kampagne zum Austritt Englands aus der Europäischen Union (dem sogenannten Brexit) und ebenfalls im Wahlkampf zwischen Donald Trump und Hillary Clinton um das amerikanische Präsidentenamt aller Wahrscheinlichkeit nach Entscheidendes zum Ausgang dieser beiden äußerst knappen Urnengänge beigetragen haben.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.
[1] Der Begriff der Emotion ist in diesem Text als Oberbegriff über eine Vielzahl von überlappenden emotionalen Erscheinungen (wie Gefühl, Empfindung, Affekt, Gestimmtheit, “mood”) zu verstehen, die von Autor zu Autor, Fachgebiet zu Fachgebiet und auch Sprache zu Sprache unterschiedlich voneinander abgegrenzt werden.
[2] Hildenbrand, B., Welter-Enderlin, R. (Hrsg.) (1998). Gefühle und Systeme. Die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse. Heidelberg: Carl-Auer.
[3] Simon, F. B. (2004). Zur Systemtheorie der Emotionen. Soziale Systeme, 10 (4), 111–139.
[4] Wagner, E., Russinger, U. (2016). Emotionsbasierte Systemische Therapie. Intrapsychische Prozesse verstehen und behandeln. Stuttgart: Klett-Cotta.
[5] Ciompi, L. (2004). Ein blinder Fleck bei Niklas Luhmann? Soziodynamische Wirkungen von Emotionen nach dem Konzept der fraktalen Affektlogik. Soziale Systeme, 10, 21–49.
[6] Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Luhmann, N. (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
[7] Spencer-Brown, G. (1979). Laws of form. New York: Dutton.
[8]Ciompi, L. (1982). Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Ciompi, L. (1988). Außenwelt – Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Ciompi, L. (1997). Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
[9] Ciompi, L. (1997). Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 126 ff.
[10] Damasio, A. (1995). Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: List.
[11] Ciompi, L., Endert, E. (2011). Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen - von Hitler bis Obama. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.