Mein Stand des Irrtums – Synergetik und Schizophrenie – und noch viel mehr. Zum 90. Geburtstag von Hermann Haken (2017)

Gute Texte veralten nicht, dieser unbescheidene Gedanke kommt mir, als ich meine Würdigung Hermann Hakens, die ich anlässlich seines neunzigsten Geburtstags 2017 aufsetzte, in diesen Tagen noch einmal las:[1]

Hermann Haken ist ein Monument. Die Bedeutung seiner Synergetik für die verschiedensten Gebiete der Wissenschaft kann meines Erachtens gar nicht überschätzt werden. Ihm hier zum neunzigsten Geburtstag zu gratulieren und weiter alles Gute wünschen zu dürfen ist mir deshalb eine große Freude und Ehre.

Die Bedeutung der Haken’schen Synergetik möchte ich zunächst anhand eines Beispiels aus meinem eigenen Forschungsgebiet, der Psychiatrie und speziell der Schizophrenieforschung illustrieren, an das man in diesem Zusammenhang wohl kaum in erster Linie denkt. Anschließend erlaube ich mir noch einige spekulative Überlegungen, die weit über mein enges Fachgebiet hinausweisen.

Im Zuge meiner Untersuchungen zur Entwicklungsdynamik der Schizophrenie habe ich mich seit den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts intensiv mit nichtlinearen Vorgängen, und damit auch mit der sogenannten Chaostheorie zu befassen begonnen, in deren Rahmen die Haken’sche Synergetik gehört. Nichtlineare Entwicklungssprünge sind in der Entwicklung der schizophrenen Psychose nicht selten. Eine besonders spektakuläre – und zugleich entscheidend wichtige – solche Nichtlinearität stellt nach meiner Auffassung insbesondere der plötzliche Ausbruch von psychotischen Erscheinungen bei vorher geistesgesunden, aber aus komplexen Gründen untergründig verletzlichen Menschen dar. Weitere wichtige Elemente eines chaostheoretischen Psychosenverständnisses ergeben sich aus einer Reihe von Untersuchungen englischer Forscher aus den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, die übereinstimmend gezeigt hatten, dass sogenannte Expressed Emotions (kritisch steigende emotionale Spannungen in und um einen psychosegefährdeten Menschen) mit dem rätselhaften Phänomen des Ausbruchs einer akuten Psychose statistisch eng gekoppelt sind.[2]

Während eines Sabbaticals im Sommer 1986 verbrachte ich zum Studium der Chaostheorie mehrere Wochen im pluridisziplinären Forschungsinstitut des Nobelpreisträgers Ilya Priogine in Brüssel. Wenig später lernte ich ebenfalls Hermann Haken (bekanntlich auch er seinerzeit ein Anwärter auf den Nobelpreis...) und seine Synergetik kennen. Bei ihm mehr noch als in der allgemeinen Chaostheorie fand ich eine Reihe von Aufschlüssen, die mir für das Verständnis des Ausbruchs von schizophrenen Psychosen von hoher Bedeutung zu sein schienen. Um dies genauer zu erklären, muss ich allerdings etwas weiter ausholen.

Ein zentrales Verdienst der Haken’schen Synergetik ist es bekanntlich, dass sie Beobachtungen aus seinen Untersuchungen zum Laser aus den Sechzigerjahren zu generalisieren, das heißt auf offene dynamische Systeme verschiedenster Art zu übertragen vermochte.[3] Besonders wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass der fortwährende Input von Energie in ein offenes dynamisches System an einem kritischen Punkt zu einem plötzlichen nichtlinearen Umschlag – einer sogenannten Bifurkation – der ganzen Systemdynamik in ein global neues Muster zu führen vermag. Der Grad der energetischen Spannung wirkt dabei als sogenannter Kontrollparameter, der den Moment des Umschlags „kontrolliert“, das heißt bestimmt. Als Ordnungsparameter, um den herum sich die neuen Funktionsmuster ordnen, dienen dagegen meist vorher periphere Systemelemente, die vom besagten kritischen Moment an zum Kristallisationskern der neuen globalen „Ordnung“ oder Funktionsweise werden.

Zu einem entscheidenden Schlüssel für ein besseres Verständnis der Schizophreniedynamik wurden diese schon von Haken auch auf mentale Prozesse angewandten Erkenntnisse für mich vom Moment an, wo es mir gelang, sie in einen sinnvollen Zusammenhang nicht nur mit der genannten Expressed-Emotion-Forschung, sondern auch mit meinen eigenen, seit den frühen Achtzigerjahren unter dem Begriff der „Affektlogik“ entwickelten Konzepten zu den Wechselwirkungen zwischen Fühlen und Denken zu bringen. Demnach wirken Gefühle (oder Emotionen, Affekte) mit sämtlichen kognitiven Funktionen, das heißt mit der „Logik“ in einem weiten Sinn ständig und obligat zusammen. Unter anderem üben sie, neben spezifischen Filter- und Schaltwirkungen, auch energetische Wirkungen auf alle kognitiven Funktionen (wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis, kombinatorisches Denken und Entscheiden) aus. Oder anders gesagt: Emotionen sind die Energien oder „Motoren“, die die Dynamik von psychischen und sozialen Systemen aller Art vorantreiben. Bedeutsam ist des Weiteren die Einsicht, dass unsere gewohnten Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen – die sogenannte Alltagslogik im Jargon der Affektlogik – typischen, von vielfältigen homöostatischen, morphogenetischen und positiven wie negativen Rückkoppelungsmechanismen geregelten dynamischen Systemen genau im systemtheoretischen Sinn entsprechen. Beide Einsichten zusammen führen zur Hypothese, dass ein Übermaß an emotionaler Energie in psychischen und sozialen Systemen ganz ähnlich zu nichtlinearen Umschlägen in neue globale Muster zu führen vermag, wie dies übergroße energetische Spannungen auch im physischen, chemischen oder biologischen Bereich tun.[4]

Unzählige Beobachtungen aus dem Tagesgeschehen bestätigen in der Tat, dass kritisch wachsende emotionale Spannungen in psychosozialen Systemen immer wieder zu plötzlichen umfassenden Veränderungen des ganzen Denkens und Fühlens führen: so etwa beim Ausbruch von Gewaltsamkeiten, einer Panik, einer Revolution oder eines Kriegs. Affektlogisch gesehen schlägt eine Alltagslogik in eine Logik der Angst oder Wut, eine Liebeslogik in eine Hasslogik, oder eine sogenannte „Logik des Friedens“ in eine „Logik des Kriegs“ um. Und bei entsprechend disponierten Menschen kann es, wie die Expressed-Emotion-Forschung gezeigt hat und auch der Volksmund so treffend sagt, zu einer plötzlichen „Verrückung“, zu einem „Überschnappen“ des gesamten Fühlens und Denkens in eine „psychotische Logik“ kommen. Auch in diesem Fall funktioniert der Grad der emotionalen Spannung als Kontrollparameter im Haken’schen Sinn. Und zum Ordnungsparameter werden auch hier meist früher periphere Systemelemente (zum Beispiel sogenannte „Nebenrealitäten“ nach der Terminologie des verstorbenen Kinderpsychiaters Reinhardt Lempp)[5] wie etwa ein langer bloß vager Verdacht, um den sich beim Ausbruch einer Psychose sozusagen über Nacht ein ganzes ausgedehntes Wahnsystem (zum Beispiel ein Verfolgungswahn) formiert. Auch lange nur randständige zwanghafte oder sonst wie pathologische Verhaltensweisen können plötzlich zum Kristallisationskern eines neuen und umfassenden psychotischen Fühl-, Denk- und Verhaltenssystems werden.

Dieses Psychosenverständnis hat auch therapeutische Konsequenzen: Wenn kritisch wachsende emotionale Spannungen bei disponierten Menschen zum Ausbruch der Psychose führen, so dürfte umgekehrt eine nachhaltige Verringerung der emotionalen Spannungen in und um einen psychotisch erkrankten Menschen bessernd oder heilend wirken. Genau diese Annahme hat sich in der 1984 aufgrund der obigen Überlegungen geschaffenen therapeutischen Wohngemeinschaft Soteria Bern seit über dreißig Jahren immer wieder klar bestätigt: Gemäß klinischen Vergleichsuntersuchungen erweisen sich gezielte psycho- und milieutherapeutische Verfahren zur nachhaltigen Spannungssenkung bei akut schizophrenen Patienten als mindestens ebenso wirksam wie die in konventionellen Kliniken üblichen, vorwiegend medikamentösen Behandlungen.[6]

Aufgrund der Tatsache, dass analoge Wirkungen von kritisch steigenden emotionalen Spannungen ebenfalls auf der makrosozialen Ebene zu beobachten sind, lautet eine weitere, von der Synergetik und Chaostheorie abgeleitete Grundthese der Affektlogik dahingehend, dass die Wechselwirkungen zwischen Emotion und Kognition typisch fraktal strukturiert sind, das heißt auf den verschiedensten Ebenen des psychosozialen Geschehens grundsätzlich den gleichen selbstähnlichen Algorithmen gehorchen.[7] Auch diese These hat weitläufige theoretische wie praktische Konsequenzen, auf die ich aber hier nicht weiter eingehen kann. Spektakuläre Beispiele von makrosozialen Wirkungen von Emotionen, darunter das lawinenartige Aufkommen des Hitler’schen Nationalsozialismus in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland oder den „ewigen“ Israel-Palästina-Konflikt, haben die Soziologin Elke Endert und ich vor einigen Jahren in einem Buch zur kollektiven Affektlogik genauer analysiert.[8]

Zum Schluss, wie eingangs angekündigt, noch einige spekulative Gedanken, die für eine universellere Bedeutung der Haken’schen Synergetik weit über das psychsoziale Feld hinaus sprechen würden: Könnte es nicht sein, dass synergetische Mechanismen auch in der ganzen Evolution eine zentrale Rolle spielen? Wenn sich zum Beispiel herausstellen sollte, dass evolutionär mehr oder weniger zufällig entstandene lokale energetische und/oder materielle Verdichtungen beliebiger Art, von Elementarteilchen, Atomen und einfachen Molekülen bis zu immer komplexeren Organismen und zum Menschen, energetisch ökonomischer und damit überlebensfähiger sind, wenn sie zusammenwirken anstatt getrennt zu funktionieren, so wäre damit ein enorm einfacher und gerade deshalb möglicherweise grundlegender evolutionärer Mechanismus von größter allgemeiner Tragweite identifiziert. Und wenn, noch ein wenig weiter spekuliert, eine solche „generelle Synergetik“ bis ins komplexeste soziale Geschehen hinein am Werk sein sollte, so müssten die Gesetze der Synergetik mit der Zeit (allerdings mit sehr viel Zeit...) sozusagen obligat zur Entwicklung von immer mehr Zusammenarbeit, von mehr Zusammenwirken und also auch von mehr Frieden und Harmonie führen. Allem schrecklichen Tagesgeschehen zum Trotz scheint es für eine solche lang- und längstfristige Entwicklung tatsächlich gewisse Indizien zu geben.[9]

 
***

Im Anschluss an ein handschriftliches Dankesschreiben Hermann Hakens nach der erstmaligen Publikation dieses Textes[10] habe ich den prominenten Forscher gefragt, was er von der Darstellung seiner Synergetik und meinen Spekulationen über deren Stellenwert in der Evolution halte. Haken schrieb zurück, meine Darstellung der Synergetik sei völlig korrekt, und den vermuteten Zusammenhängen zwischen der Synergetik und der Evolution könne er „von ganzem Herzen“ zustimmen.


Luc Ciompi
(*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.



[1] Der nachfolgende Text ist erstmals erschienen als: Ciompi, L. (2017). Synergetik und Schizophrenie – und noch viel mehr. Zum 90. Geburtstag von Hermann Haken. In J. Kriz, W. Tschacher (Hrsg.), Synergetik als Ordner. Die strukturierende Wirkung der interdisziplinären Ideen Hermann Hakens (S. 15–20). Lengerich: Pabst Science Publishers.

[2] Leff, J., Vaughn, C. (1985). Expressed emotions in families. Its significance for mentalillness. New York/London: Guilford Press.
Kavanagh, D. J. (1992). Recent developments in expressed emotion and schizophrenia. British Journal of Psychiatry, 160, 601–620.

[3] Haken, H. (1990). Synergetics. An introduction. Berlin: Springer.

Haken, H., Haken-Krell, M. (1991). Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung. Synergetik als Schlüssel zum Gehirn. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

[4] Ciompi, L. (1982). Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Ciompi, L. (1997). Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Ciompi, L. (2015). The key role of emotions in the schizophrenia puzzle. Schizophrenia Bulletin, 41, 318–322. http://www.ciompi.com/

[5] Lempp, R. (1973). Psychosen im Kindes- und Jugendalter, eine Realitätsbezugsstörung. Eine Theorie der Schizophrenie. Bern: Huber.

[6] Ciompi, L., Hoffmann, H. (2004). Soteria Berne: an innovative milieu therapeutic approach to acute schizophrenia based on the concept of affect-logic. World Psychiatry, 3, 140–146.

[7] Ciompi, L., Baatz, M. (2005). Do mental and social processes have a fractal structure? The hypothesis of affect-logic. In G. Losa, D. Merlini, T. F. Nonnenmacher, E. Weibel (eds.), Fractals in biology and medicine, Vol IV (pp. 107–119). Basel: Birkhäuser Press.

[8] Ciompi, L., Endert, E. (2011). Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen - von Hitler bis Obama. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

[9] Harari, Y. N. (2011). Sapiens. A brief history of humankind. London: Vintage Books. S. 410 ff.

[10] Ciompi, L. (2017). Synergetik und Schizophrenie – und noch viel mehr. Zum 90. Geburtstag von Hermann Haken. In J. Kriz, W. Tschacher (Hrsg.), Synergetik als Ordner. Die strukturierende Wirkung der interdisziplinären Ideen Hermann Hakens (S. 15–20). Lengerich: Pabst Science Publishers.

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