Ich habe den Eindruck, interessanten Zusammenhängen zwischen dem Begriff der freien Energie – eine zunächst recht mysteriöse, aus der Thermodynamik stammende Zustandsgröße, deren Minimisierung in unzähligen physischen wie biologischen Prozessen eine Schlüsselrolle spielen soll – und meinen Ideen über die Wirkung von emotionalen Spannungen auf der Spur zu sein.
Dem nicht leicht zu fassenden Begriff der freien Energie bin ich vor Jahren erstmals in einem Gespräch mit Wolfgang Tschacher begegnet. Kurz nachher hörte ich darüber (anlässlich der „Herbstakadamie“ in Heidelberg 2015) einen für mich praktisch unverständlichen Vortrag des englischen Neurowissenschaftlers und Mathematikers Karl Friston, dem wichtigsten Verfechter dieses Begriffs im Bereich der Neurobiologie. Richtig Gestalt angenommen hat die freie Energie für mich indessen seit ich mich mit dem Modell des Bewusstseins von David Rudrauf und Mitautoren beschäftige,[1] in dem das Prinzip der Minimisierung von freier Energie eine Schlüsselrolle spielt. Sämtliche psychischen Operationen wären demnach dem ständigen Bestreben des Gehirns untergeordnet, freie Energie zu minimisieren, das heißt Ungleichgewichtszustände, die ein unkontrolliertes Freiwerden von Energie provozieren, möglichst zu vermeiden. Ganz wichtig ist dabei auch die Erkenntnis, dass sich diese Tendenz in Struktur umzusetzen vermag. So können nach Friston alle neuroplastisch entstandenen, das heißt auf Lernvorgängen beruhenden Hirnstrukturen als Resultanten (oder „Niederschläge“) einer solchen Minimisierung von freier Energie verstanden werden.
Zwar vermag ich Fristons mathematischen Ableitungen nach wie vor höchstens der Spur nach zu folgen,[2] indessen meine ich, dank sorgfältigem Studium seiner Texte und zusätzlichen Diskussionen mit David Rudrauf und Wolfgang Tschacher, das Wesen dieses von James Maxwell schon im 19. Jahrhundert in die Thermodynamik eingeführten Prinzips schließlich ganz gut begriffen zu haben. So gut sogar, dass ich nachgerade finde, es handle sich im Grund um etwas höchst Einfaches.
Beim Verstehen half mir die Vorstellung eines Felsblocks, der, vom Permafrost stabilisiert, hoch oben auf einem Berggrat festsitzt: So lange er nicht fällt, besitzt er zwar sehr viel potenzielle („gebundene“), aber keine freie Energie. Doch sobald er aus dem Gleichgewicht gerät und abstürzt, werden große Quanten von kinetischer, thermischer und mechanischer Energie frei, mit denen er theoretisch sehr viel Arbeit leisten könnte. Kommt der Block indes unten im Tal zum Stillstand, so nähert sich seine freie Energie wieder dem Wert null, obwohl er weiterhin über potenzielle Energien verfügt (er könnte noch tiefer fallen, oder abrutschen). Mit anderen Worten, durch den Prozess des Fallens hat der Felsblock seine freie Energie minimisiert. – Wolfgang Tschacher wandte zwar ein, dieser Vergleich hinke, weil ein gestürzter Felsblock noch keine selbstorganisatorische Struktur aufweise, wie sie aufgrund des Prinzips der Minimisierung der freien Energie im Gehirn (genau wie auch in unzähligen anderen biologischen Prozessen) entstehe. Gewiss, aber wenn wir statt an einen einzelnen fallenden Block an einen ganzen Felssturz denken, so werden auch hier zumindest Anfänge von selbstorganisatorischer Strukturbildung sichtbar: Die größten Steine kommen erst zuunterst zum Stillstand, die kleinsten zuoberst, und alle mittleren dazwischen. Im Grundprinzip ähnliche, aber sehr viel komplexere selbstorganische Vorgänge wären nach Friston sowohl bei der Entstehung von biologischen Strukturen wie insbesondere auch bei der auf Lernprozessen beruhenden Differenzierung von Hirnstrukturen am Werk.
Wenn das stimmt, so sind interessante Beziehungen zwischen dem Prinzip der Minimisierung von freier Energie und meinen Ideen zu den mobilisierenden, motivierenden und manchmal sogar „verrückenden“ Wirkungen von emotionalen Spannungen zu vermuten. Effektiv ist die Psyche ständig bestrebt, emotionale Spannungen abzubauen. Solche Spannungen treten immer dann auf, wenn etwas Unvorhergesehenes (zum Beispiel das plötzliche Auftauchen eines Hindernisses auf einem bisher problemlos durchlaufenen Weg) passiert, das heißt wenn die gewohnten Fühl-, Denk- und Verhaltensstrukturen, oder vielmehr die ihnen entsprechenden Hirnstrukturen zur reibungslosen „Bewältigung des Begegnenden“ nicht mehr ausreichen. Das Ergebnis ist ein Lernprozess, der das mögliche Auftauchen eines Hindernisses in die bestehenden Hirnstrukturen einbaut und damit die Wahrscheinlichkeit von unangenehmen Überraschungen verringert – und das heißt, von unkontrolliert einschießenden emotionalen Spannungen. Emotionale Spannungen erscheinen somit ganz klar als psychische Äquivalente von freier Energie.
Ganz ähnlich verhält es sich möglicherweise mit unseren „Gefühlen“ von Stimmigkeit und Schönheit: Ein Zusammenhang, eine Theorie oder ein Verhalten erscheint uns dann als stimmig, wenn alle spannungsvollen Widersprüche darin beseitigt und die Gewichte so harmonisch verteilt sind, dass Teile und Ganzes schön „aufgehen“ und zusammenspielen. Und eine ganz ähnliche Äquilibrierung und Minimisierung von freier Energie dürfte ebenfalls am Werk sein, wenn uns ein Bild, ein Gedicht oder eine Melodie als schön erscheint.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.
Mein Stand des Irrtums – Spekulationen über freie Energie, Schönheit und Stimmigkeit
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alle Vorgänge werden durch die Minimierung freier Energie angetrieben
Ich finde die Bedeutung der freien Energie von Luc Ciompi treffend dargestellt. Wie hier gesagt, ist die Verbindung des physikalischen Begriffs mit Kognition und Emotion wichtig, wenn man sich als Psychiater oder Psychologe mit solchen Themen beschäftigt. Jegliche Dynamik eines Systems wird bestimmt durch eine Potentialfunktion, die sagt, wieviel potentielle ('freie') Energie dem System in jeder Situation zur Verfügung steht. Potential und freie Energie sind äquivalente Begriffe, da sind sich Hermann Haken und Karl Friston einig. Manchmal trifft freie Energie auf ein ungeordnetes komplexes System, dann führt das zu Dynamiken der Selbstorganisation, das System ordnet sich wie von Zauberhand, um die freie Energie zu minimieren: der Kern von Hakens Synergetik. Und die freie Energie muss natürlich kein physikalisches Potential beschreiben, es kann auch ein affektives Potential sein, wie in der Affektlogik. Synergetisches Denken ist im besten Sinne interdisziplinär.