Mein Stand des Irrtums – Extremereignisse, systemtheoretisch betrachtet

Jedes biologische oder psychosoziale System hat in sich die Tendenz, seine Grenzen auszuweiten und gewissermaßen auszureizen, indem es versucht, an seiner Peripherie neue und „extreme“ Funktionsmöglichkeiten auszukundschaften und, wenn möglich, zu verwirklichen. Sowohl die Peripherie wie auch das Zentrum eines psychosozialen Systems haben systemerhaltende Funktionen: Die instabile, alternative und extreme Peripherie markiert, verteidigt und weitet, wenn möglich, die Grenzen des Systems weiter aus. – Solche marginale „Extremisten“ sind im Gesellschaftssystem zum Beispiel die Kriminellen, die Drogenabhängigen und „Geisteskranken“, die randständigen Sektierer, aber auch die Erfinder, Extremsportler oder Künstler und Denker. Außerdem stellt die Peripherie mögliche Alternativen für den Notfall bereit, die in einer prekären Situation allenfalls ergriffen werden und zum Tragen kommen können.

Die meisten „extremen“ Funktionsmöglichkeiten, die ihren Ursprung in der Peripherie haben, erweisen sich als instabil und nicht gangbar, einige dagegen sind tragfähig, selbststabilisierend und beanspruchen deshalb mehr und mehr Raum und Energie, ja können unter Umständen sogar zum Keim von umfassenden „Versklavungsprozessen“ (nach den Synergiekonzepten von Hermann Haken) werden. Hitler und der Nationalsozialismus, die Israel-Palästina- oder die islamistischen und Al Kaïda-Extremisten liefern dafür spektakuläre makrosoziale Beispiele. Grundsätzlich ganz ähnlich entwickeln sich auch gesellschaftliche Trends und Entwicklungen, darunter etwa die gegenwärtige Globalisierung und Computerisierung aller Lebensbereiche, der zunehmend schnelle technisch-zivilisatorische Fortschritt sowie die Hoch- und Überschätzung des Individuums gegenüber dem Kollektiv. Immer wieder kann eine Entwicklung, die anfänglich nur randständig war, unter geeigneten Umständen plötzlich dominant werden und die ganze Systemdynamik „versklaven“.

Jede soziale Entwicklung birgt in sich versteckt solche Extremismen, Extremmöglichkeiten, Top-Fähigkeiten, ja es gibt sogar so etwas wie einen „extremen Konservativismus“. Diese „extreme Mitte“ (zum Beispiel die verbohrten Konservativen, Reaktionäre, Nationalisten) dient primär der Systemstabilisierung. Zu den Auffassungen der extremen Mitte gehören unreflektierte „Selbstverständlichkeiten“ wie etwa die „gottgegebenen Unterschiede“ zwischen Mann und Frau, die Verteilung von Macht und Geld, die Rolle der Tiere etc.

Es bleibt die Frage, ob und unter welchen Umständen sich vormals randständige Prozesse zu realisieren und radikalisieren vermögen. Wenn die implizierten emotionalen Spannungen eine kritische Schwelle erreicht haben, könnte eine „affektlogische“ Antwort lauten.


Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.

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