Unweigerlich kommen mir bei meinen Überlegungen immer wieder die berühmten Peitgenbilder in den Sinn, in denen mathematische Fraktalstrukturen durch komplexe Spiralen, gebildet von sogenannten Apfelmännchenfiguren, dargestellt sind. Sogenannte fraktale Strukturen sind Strukturen, deren Grundformen sich in kleinstem wie größtem Maßstab in immer neuen Variationen wiederholen. Vergrößert man in einem solchen Bild das winzigste Strukturelement, so enthüllen sich darin – ganz ähnlich wie in den bekannten russischen Matroschkapuppen – unaufhörlich die gleichen selbstähnlichen Grundformen. Von den äußersten, größten Spiralen sind nur noch die gröbsten Bruchstücke zu erkennen, die indes erahnen lassen, dass sich dieselben Muster bis ins Unendliche fortsetzen.
Die Peitgenbilder sind Veranschaulichungen der fraktalen Struktur unzähliger Naturphänomene (Wolkenbilder, Bergstrukturen, Küstenlinien, Pflanzenformen, Verästelungen von Bronchialbäumen und Blutgefäßen und vieles andere mehr). Sie beruhen auf der Tatsache, dass in solchen Erscheinungen im Größten wie Kleinsten immer wieder die gleichen Algorithmen am Werk sind. Die deutschen Mathematiker Heinz-Otto Peitgen und Peter Richter haben aufgrund von solchen Algorithmen ganze Serien von abstrakten schwarz-weißen oder farbigen Bildern von teilweise großer Schönheit geschaffen.[1] Ich bin auf sie während meinem Sabbatical bei Ilya Prigogine 1986 in Brüssel gestoßen, wo ich mich im Zusammenhang mit meinen Studien zur Affektlogik mit der nichtlinearen und „chaotischen“ Dynamik von offenen Systemen aller Art sowie dem Einschluss von psychosozialen Systemen vertieft beschäftigt habe.
Die fraktale Struktur der psychischen und sozialen Dynamiken
Das Ergebnis war die Vermutung, dass auch die ganze psychische und soziale Dynamik typisch fraktal strukturiert ist. Dafür spricht unter anderem die Tatsache, dass die in der Affektlogik[2] beschriebenen Wechselwirkungen zwischen Emotion und Kognition sich ganz ähnlich (sogenannt „selbstähnlich“ oder eben „fraktal“, nach dem chaostheoretischen Fachausdruck) auf beliebigen mikro- oder makrosozialen Ebenen wiederholen. Dies gilt insbesondere für die Filter- und Schaltwirkungen von Emotionen auf alle kognitiven Funktionen wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, kombinatorisches Denken und Entscheiden: Angst oder Wut über schockierende Ereignisse (wie etwa die jüngeren terroristischen Anschläge in Belgien, Frankreich und Deutschland), oder auch Freude und Begeisterung (zum Beispiel über den Sieg der eigenen Fußballmannschaft bei den Weltmeisterschaften) polarisieren eine Zeit lang die Aufmerksamkeit von einzelnen Menschen wie von Familien und Gruppen bis zu ganzen Nationen. Auch das Gedächtnis, und damit das ganze kombinatorische Denken, wird kollektiv wie individuell selbstähnlich durch Emotionen selektiv aktiviert oder blockiert. Indem die gleichen Schalt- und Filterwirkungen von Emotionen auf allen Ebenen wirken, generieren sie durchgehend selbstähnliche affektiv-kognitive Strukturen. Zwischen individuellen und kollektiven sozialen Dynamismen klafft somit keineswegs, wie so oft behauptet, ein theoretisch schwer zu überbrückenen Graben, sondern herrscht im Gegenteil eine erstaunliche Kontinuität.
Gesetzmäßigkeiten bis ins Unendliche
Nicht anders stelle ich mir auch die Grundstruktur unserer gesamten Welterkenntnis vor: In einem bestimmten Beobachtungsbereich, der uns als zentral erscheint, meinen wir schon fast die „ganze Wirklichkeit“ zu erfassen. An den Grenzen dieses Wissens aber zeigen sich nur noch einige fragmentarische Strukturelemente, die indes dafürsprechen, dass sich die gleichen Gesetzmäßigkeiten bis ins Unendliche hinein fortsetzen.
Genau dies veranschaulichen die Peitgenbilder: Die groben Formrudimente an ihrer Peripherie entsprächen den äußersten Grenzen unseres vorläufigen Wissens. Unbekannte Zusammenhänge von vermutlich selbstähnlicher Struktur türmten sich jenseits dieser Grenzen bis ins Unendliche. Auf der anderen Seite aber würde sich etwas von der Gesamtstruktur des großen Ganzen für denjenigen, der zu sehen verstünde, selbst noch im kleinsten Fragment enthüllen.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.
Mein Stand des Irrtums – Die Peitgenbilder
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