Mein Blick aufs Ganze – Was ist »gut« und was ist »böse«?

Diese uralte und seit jeher eng mit Religion verquickte Frage stellt sich mir gerade heute, im Zeitalter des Terrorismus auf der einen und der Suche nach einer globalen Ethik auf der anderen Seite, mit neuer Schärfe. Während die Terroristen sich selbst als Idealisten und Märtyrer für eine Sache verstehen, die sie fraglos als gut empfinden, scheitert eine transkulturell akzeptable Definition von gut und böse (etwa im Sinn von „was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“) offenbar an unlösbaren Widersprüchen.

Scheint die Frage „Was ist ‚gut‘ und was ist ‚böse‘?“ in erster Lesung noch relativ leicht zu beantworten – „gut“ ist was mir nützt und „gut tut“, „böse“ alles Gegenteilige –, so wird sie immer verzwickter, je näher man hinschaut: Was für mich gut ist, mag für einen anderen, vielleicht gar für meinen Nächsten, schlecht, schädlich und somit „böse“ sein. Und dies gilt nicht bloß in alltäglichen Konkurrenzsituationen etwa im Beruf, in der Familie oder im Sport, sondern ebenfalls auf beliebigen meso- und makrosozialen Ebenen bis hin zu ganzen Völkern und Zivilisationen. Was für die Israelis gut ist (so zum Beispiel der voranschreitende Siedlungsbau durch jüdische Siedler im palästinensischen Westjordanland) ist für die Palästinenser böse und schlecht, und was für diese gut ist (etwa die Gründung eines eigenen Staates und das Verhindern jeder weiteren Ausdehnung des Staats Israel) ist schlecht für die Israelis. Oder noch viel deutlicher: „Böse“ Christen durch Attentate umzubringen ist offenbar sehr gut, ja heldenhaft und wunderbar für die extremen Islamisten, und diese Islamisten zu töten ist folglich „gut“ für die Christen. Kurz und (nicht) gut: Das Gute des Einen ist nur zu oft das Böse des Anderen, und umgekehrt.

Erste philosophische Annäherung
Seit jeher wird „das Böse“ gern einem radikal Anders- und Fremdartigen zugeschrieben, zum Beispiel dem Teufel oder Satan. Aber der Teufel selbst war ursprünglich ein Teil Gottes, nämlich ein „gefallener“ oder von Gott abgefallener Engel, sagt die (christliche) Lehre inkonsequenter- und konfuserweise. Denn wenn Gott wirklich allmächtig und allgütig wäre, so sollte er weiß Gott imstande sein, einen solchen Unfug zu verhindern. Gerade dies unterlasse er indessen mit Bedacht, behauptet die Religion mit einer zusätzlichen Spitzfindigkeit: nämlich einerseits, um den Menschen (den er doch selbst geschaffen hat – wieso denn derart unvollkommen?) auf die Probe zu stellen, und andererseits, um ihn für seine Sünden (und letztlich für den ersten Sündenfall, den Griff nach der verbotenen Erkenntnis, sprich Sexualität) zu bestrafen. Widersinn über Widersinn, oder vielmehr ganze Kaskaden von widerspruchsvollen Projektionen ins Religiöse und Göttliche unserer eigenen fundamentalen Unklarheit über gut und böse.

Fraglos ist allerdings, dass wir in der Praxis ohne einen einigermaßen klaren Begriff von gut und böse nicht auskommen. Keine Familie, keine Gruppe und noch viel weniger eine ganze Gesellschaft kann ohne leidlich stabile Wert- und Moralbegriffe als Grundlage jeden Rechts überleben. Nur: Welches Recht soll denn heute, im Zeitalter der Globalisierung, gelten? Etwa das nationale oder das internationale Recht (was zurzeit gerade bei uns in der Schweiz wieder heiß diskutiert wird), das westliche und jüdisch-christliche Recht, oder die Scharia? Und wie steht es mit den Begriffen von gut und böse in kommunistisch oder neokapitalistisch totalitären, aber gleichzeitig traditionell konfuzianischen Staaten wie Nordkorea oder China?

Wissenschaftler und Denker wie Konrad Lorenz, Sigmund Freud oder Erich Fromm haben bekanntlich behauptet, dass das „sogenannte Böse“[1] nicht etwas Fremdes und Andersartiges, sondern etwas dem Menschen als Aggressions- und Zerstörungstrieb Angeborenes ist. Wobei Fromm immerhin zwischen einer gutartigen (reaktiv-defensiven) und bösartigen (destruktiv-grausamen) Aggression unterscheidet. Hannah Ahrendt führt aus, dass es im Menschen zwar ein absolut Böses gebe, nicht aber ein absolut Gutes. Zu dieser Einschätzung kommt sie unter anderem aufgrund ihrer Untersuchung von Nazischergen wie Adolf Eichmann. Das absolut Böse umschreibt Arendt eindrucksvoll als nur subjektiv fassbar als „das, was bei uns sprachloses Entsetzen verursacht, wenn wir nichts anderes mehr sagen können als: Dies hätte nie geschehen dürfen.“[2] Den Begriff „Banalität des Bösen“, den Arendt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus prägt,[3] ist für mich ebenfalls von besonderem Interesse, wie auch eine Eintragung in ihrem Denktagebuch aus dem Jahr 1953, wonach das radikal Böse immer dann entstehe, wenn ein radikal Gutes gewollt werde.[4] Diese Aussage mutet wie ein Gegenstück an zu Goethes Figur des Mephistopheles als „[ein] Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“.[5]

»Gut« und »böse« in der Evolution

Aus der evolutionären Perspektive, die mir einmal mehr am meisten Sinn zu machen scheint, ist Aggressivität überlebenswichtig, also im Prinzip sicher „gut“, denn ihre ursprüngliche und zentrale Funktion ist es, das eigene Revier, das Nest und die Nachkommenschaft gegen einen Feind zu schützen. Oder, auf höherer Stufe, die Fähigkeit, die eigene Identität zu bewahren, sich abzugrenzen und, wenn nötig, entschieden „nein“ und „bis hierher und nicht weiter!“ sagen zu können. Genau dieser vital wichtige Überlebensvorteil hat dazu geführt, dass sich aggressive Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen im Lauf der Evolution herausbildeten und weitervererbt wurden. Im Übermaß allerdings, das heißt über diese sinnvollen Grenzen hinaus, erscheinen Wut und Aggression wohl fraglos als „böse“.

Bei den Tieren, und in der Natur überhaupt, kann man schwerlich von gut oder böse sprechen, obwohl wir immer wieder projektiv die Natur bald als grausam und bald als allgütig empfinden. Dem modernen Menschen, der Naturereignisse nicht mehr als göttliche Strafen oder Belohnungen versteht, erscheint die Natur als indifferent selbst dann, wenn sie – wie etwa bei großen Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen – ungeheure Schäden mit Tausenden von Toten anrichtet. Ebenso wenig sind Tiere „böse“, selbst wenn sie aggressiv sind und einander töten und fressen.

„Gut“ und „böse“ sind moralische Kategorien und als solche nur dem Menschen zugehörig. – Aber ist denn der Mensch nicht letztlich auch Natur, nicht auch ein Tier, wenn auch ein emotional-kognitiv besonders differenziertes? Und ist nicht dennoch „die Natur“ (d. h. die Natur im Ganzen und also auch unsere eigene Natur) zumindest insofern „allgütig“, als sie dafür verantwortlich ist, dass überhaupt Etwas (und nicht Nichts) ist, dass sich dieses Etwas (und darin ebenfalls der Mensch) immer weiter und weiterentwickelt? Jedenfalls ist auch die Natur als Evolution etwas unendlich Großartiges und Wunderbares.

***

Vielleicht ist gut auch ganz einfach das, was die Evolution des Lebens – sowohl des einzelnen Lebewesens wie auch des Lebens als Ganzes – fördert. Aber von nahe besehen geraten wir in die gleichen Widersprüche wie zuvor: Was für das eine Lebewesen gut (das heißt lebensfördernd) ist, ist möglicherweise höchst ungut (das heißt zerstörerisch) für das andere, und was die gesamte Evolution in die eine Richtung befördert, schädigt sie in eine andere Richtung. Und wer sagt denn, dass die aktuelle Evolution im weitesten Sinn – wozu ich auch die ganze kulturelle und technische Entwicklung des Menschen zähle – wirklich gut und dem Leben als Ganzes förderlich ist? Eher das Gegenteil scheint zurzeit der Fall zu sein.

»Gut« und »böse« aus der Perspektive der Affektlogik
Noch verzwickter wird das Problem, wenn wir es aus der Perspektive der Affektlogik betrachten – meiner Lehre von den Wechselwirkungen zwischen Fühlen und Denken sowie insbesondere der Wirkungen von Gefühlen auf das Denken.[6] Je nach vorherrschendem Gefühl werden Wahrnehmung, Gedächtnis, kombinatorisches Denken und Entscheiden durch eine Logik der Angst, der Trauer, der Freude und Liebe oder durch eine Hass- und Wutlogik geleitet – und je nachdem verändert sich auch ganz erheblich, was wir als „gut“ oder „böse“ empfinden. Hegen wir einem bestimmten Menschen, einem Volk oder einer Kultur gegenüber vor allem positive Gefühle wie Sympathie, Freude oder Liebe, so erscheint alles als gut, was Nähe, Freundschaft und Zusammenarbeit verspricht, alles Gegenteilige dagegen als böse oder schlecht. Genau umgekehrt ist es, wenn wir jemanden oder etwas hassen: Gut ist, sich vom gehassten Objekt abzusetzen, eventuell auch es anzugreifen und zu zerstören, schlecht dagegen, sich ihm in irgendeiner Weise zu nähern, vielleicht auch nur mit ihm das Gespräch oder eine gewisse Zusammenarbeit zu suchen. Beobachtungen oder Informationen, die unserer emotionalen Grundeinstellung widersprechen, blenden wir mit Vorliebe aus. Die große Politik (zurzeit etwa die völlig unterschiedlichen Haltungen von Barack Obama und Donald Trump hinsichtlich der Verhandlungen zwischen Iran und dem Westen, oder das Vorgehen der verschiedenen Protagonisten im Syrien-, Ukraine- oder Israel-Palästinakonflikt) liefert dafür laufend spektakuläre Beispiele. Krass widersprüchliche Definitionen von „gut“ und „böse“ je nach emotionaler Perspektive (je nachdem, wer wen als Terrorist abstempelt) sind die Folge. Nicht anders ist es aber auch im Kleinen, zum Beispiel in Betriebs-, Familien- oder Partnerkonflikten.

Fazit
Was lässt sich aus diesem Wirrwarr rund um die Begriffe „gut“ und „böse“ schließen?
„Gut“ und „böse“ sind offensichtlich Binnenbegriffe, die sich auf bestimmte Kulturen, Kontexte und Situationen beziehen und dort auch völlig unentbehrlich sind. Verallgemeinerungen im Sinn einer globalen Ethik sind dagegen nur sehr bedingt möglich. Sie werden sich höchstens in Bereichen allmählich durchzusetzen vermögen, in denen eine Globalisierung tatsächlich eingetreten ist: vielleicht im Welthandel, immer mehr hoffentlich in einer weltweiten Klimapolitik, noch viel zu wenig in Bezug auf die angeblich universellen, in Wirklichkeit aber höchstens in einigen hochentwickelten westlichen Demokratien halbwegs verwirklichten Menschenrechte.
Global gesehen wäre somit gut, was dem Zusammenleben aller mit allen und dem Leben überhaupt förderlich ist, und böse oder schlecht wäre alles, was diesem großen Ganzen schadet – um zum Abschluss, ungeachtet der obigen Einwände, doch noch eine gewisse Verallgemeinerung zu wagen.
Des Weiteren zeigt sich, dass der Mensch (jeder Mensch, behaupte ich, genauso wie das menschennahe Tier) nicht einfach gut oder böse ist, sondern je nach Situation beides sein kann. Die Fähigkeit des Menschen beides bis zu dem Tier unbekannten Extremen zu steigern, liegt in erster Linie an den viel größeren Freiheitsgraden des menschlichen Gehirns beziehungsweise des menschlichen Fühl-, Denk- und Handlungsapparates. Oder einfacher gesagt: Der Mensch ist, weit mehr und anders als das Tier, sowohl zum Höchsten wie auch zum Niedrigsten fähig.

Was ist mit solchen Verallgemeinerungen gewonnen? Wenig. Und ist das Problem nun wirklich gelöst? Keineswegs. Offensichtlich ist bloß: Die Begriffe „gut“ und „böse“ sind in der Krise wie auch unsere religiösen Begriffe in der Krise sind. Beides hängt mit dem Zusammenprall der verschiedensten Kulturen infolge der Globalisierung zusammen. Sicher ist nur: In allen mit dem Religiösen zusammenhängenden Bereichen ist es höchste Zeit für einen Sprung auf eine höhere Verstehensebene!

 

Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.

 



[1] Lorenz, K. (1964). Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression (3. Aufl.). Wien: Borotha-Schoeler.

[2] Arendt, H. (1963/2006). Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper. S. 45.

[3] Arendt, H. (1963/1986). Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (14. Aufl.). München: Piper.

[4] Arendt, H. (1953). Denktagebuch. März/April 1953. Vgl.: Zillessen, D. (2004). Gegenreligion. Über religiöse Bildung und experimentelle Didaktik. Münster: LIT. S. 49.

[5] Goethe, J. W. v. (1808/1982). Faust I, Werke – Hamburger Ausgabe Bd. 3, Dramatische Dichtungen I (11. Aufl.). München: dtv. Vers 1335 f.

[6] Ciompi, L. (1982). Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung. Stuttgart: Klett-Cotta.

Bitte geben Sie die Zeichenfolge in das nachfolgende Textfeld ein

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Passende Artikel
978-3-525-40746-2.jpg
23,00 €