Klar, hinter all meinen Überlegungen steckt eine Art von Vision, eine halbwegs zu einem inneren Bild verdichtete Ahnung von einem großen Ganzen (d. h. von allem was ist) mit Einschluss meiner selbst. Ich will versuchen, die wichtigsten Konturen dieses Bildes ganz grob nachzuzeichnen.
Es umfasst zum einen die gesamte Welt der Materie, das heißt den ganzen ungeheuren Kosmos von den Elementarteilchen, Atomen und Molekülen bis hin zum Weltall mit seinen Milliarden von Sternen und Galaxien, von denen die Wissenschaft berichtet – darunter irgendwo unserer blauer Planet Erde mit seiner vielleicht einmaligen Evolution von Pflanzen und Tieren bis hin zum modernen Menschen. Gleichzeitig aber beinhaltet dieses große Ganze für mich aufgrund meines Postulats, dass mit der Differenzierung der Materie von Anfang an auch etwas Geistiges evoluiere (der „Geist“ als ein allem Materiellen obligat zugehöriges abstraktes Beziehungsgeflecht), ebenfalls alles Geistige im weitesten wie engsten Sinn: von den Relationen zwischen den einfachsten über zunehmend komplexe materielle Organisationsformen bis hin zur Organisation des menschlichen Gehirns und seinem höchsten wie tiefsten Denken.
Aus meiner Sicht [1] bedient sich dieses Denken eines genial einfachen, evolutionär entstandenen Zweiercodes, bestehend einerseits aus Kognitionen, das heißt aus sensorischen Unterscheidungen und Unterscheidungen von Unterscheidungen, und andererseits aus Emotionen oder besser gesagt Affekten (vom Lateinischen afficere = anmachen) im Sinn von ganzheitlichen körperlich-seelischen Befindlichkeiten, die sich aufgrund der Erfahrung mit kognitiven Unterscheidungen und zugehörigen Verhaltensmustern zu Fühl-Denk-Verhaltensprogrammen verschiedenster Größenordnung als grundlegenden „Bausteinen der Psyche“ verknüpfen. Beide zusammen, Kognitionen und Emotionen, ergeben ein Abbild oder genauer ein Konstrukt der umgebenden Wirklichkeit, das zum Überleben sowohl notwendig wie auch hinreichend ist.
Zu diesen kultur-, gruppen- und persönlichkeitsspezifischen „Denkgebäuden“ mit ihrer je spezifischen Affekttönungen gehören sowohl unsere frühen Mythen und Religionen als auch unsere modernen Welterklärungen. Mein eigenes Denken ist eine persönliche Variante und Weiterentwicklung der zurzeit in unserer westlichen Kultur gehandelten Weltbilder.
Mich selbst verstehe ich – wie jeden anderen Menschen – in diesem großen Ganzen als einen winzigen individuellen Sensor und Akteur, als kurz aufleuchtendes und wieder verglimmendes Glühwürmchen oder eifrig in einem riesigen Haufen herumkrabbelnde Ameise, die aber doch, so unbedeutend sie auch ist, auf ihre Weise etwas zur Entwicklung des Ganzen beiträgt.
Offene Fragen
Soweit, in aller Kürze, mein aktuelles „Weltbild“. Klar ist aber auch, dass die dringlichsten Fragen eigentlich erst hier beginnen: Was fangen wir an mit unseren hochdifferenzierten geistigen Fähigkeiten? Was wollen wir eigentlich? Was sind unsere Leitbilder und Wertehierarchien? Und vor allem: Was können wir tun, um die (drohende und immer weniger unwahrscheinliche) Apokalypse abzuwenden? In einem Artikel in der durchaus seriösen Schweizerischen Ärztezeitung stand vor einiger Zeit zu lesen, dass der Meeresspiegel, sollte sich das in den letzten Jahren beobachtete Schmelztempo des Grönlandeises weiter so rasant wie in den letzten zwanzig Jahren beschleunigen, in einigen Jahrzehnten nicht nur um einige Zentimeter ansteigen könnte, wie das heute schon alle Klimatologen voraussagen, sondern um sieben Meter oder mehr. Und wenn binnen einem bis zwei Jahrhunderten dazu auch noch die gesamte antarktische Eiskalotte wegschmelzen sollte, so würde der Anstieg des Meeresspiegels circa sechzig Meter betragen. Was dies für Mensch, Tier und die ganze Erde sowie insbesondere für die ja bereits in Gang gekommenen ungeheuren Migrationsbewegungen heißen könnte, ist nicht auszumalen. „Wir rasen geradewegs auf die Mauer zu“, erklärte kürzlich dann auch der Lausanner Nobelpreisträger Jacques Dubochet in einem von mir gehörten Vortrag. Er forderte eine radikale Umkehr, eine totale Umwertung aller Werte, und insbesondere eine freie Verfügbarkeit aller neuen Forschungsresultate zugunsten der Allgemeinheit, anstelle des heute dominierenden kapitalistischen Gewinnstrebens.
Fromme Wünsche, muss man leider sagen. Vermutlich wird erst eine umfassende akute Katastrophe uns alle miteinander schließlich zur Besinnung bringen und auch noch dem Letzten unter uns klar machen, was wir kollektiv angestellt haben.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.
Mein Blick aufs Ganze – Eine Vision
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