Nicht selten werde ich gefragt, wie sich denn meine Wissenschaftlichkeit mit Spiritualität vertrage. Immer wieder ecke ich mit meinen wissenschaftlichen Distanzierungen und Relativierungen an, besonders wenn es um menschliche Dinge, um Beziehungen und Konflikte, um Politik und um gut oder böse geht. „Wo bleibt denn da Gott?“, wird gefragt, „wo bleibt der Geist, wo bleibt der Sinn“ in meinem viel zu wissenschaftlichen Weltbild? Einseitiger wissenschaftlicher Reduktionismus, mangelnde Offenheit für „Höheres“ und manchmal sogar mangelndes Engagement werden mir vorgeworfen.
Sehr zu Unrecht, meine ich. Denn für mich stehen Wissenschaft und Spiritualität in keinem fundamentalen Gegensatz zueinander, sondern vielmehr in einer beglückenden Konvergenz. Wie denn das? Um diese zugleich sehr komplexe wie auch ganz einfache Einsicht darzulegen, muss ich etwas ausholen.
Was ist »Geist«?
„Geist“ im weitesten Sinn wohnt für mich allem Materiellen obligat inne, und zwar bereits auf der allereinfachsten Stufe, also (soweit wir wissen) der Stufe eines einfachsten Elementarteilchens, das irgendeinmal irgendwie, wie uns die Big-Bang-Theoretiker versichern, aus einem materiefreien „energetischen Quantenfeld“ aufgetaucht und dann mit einem zweiten Materieteilchen in Interaktion geraten sei. Jedenfalls ist mit einem einzigen Elementarteilchen unabdingbar auch schon ein Zwiefaches gegeben, nämlich ein Nichts und ein Etwas, und zwischen diesen beiden besteht/entsteht eine Spannung und Beziehung. Und eben diese immaterielle, abstrakte und meinethalben mathematische Beziehung ist, so behaupte ich, ein Anfang von „Geist“. Denn Geist ist Beziehung, Konstellation, Virtualität, Dynamik und deshalb in gewissem Sinn auch Energie, im Gegensatz zur Materie, die, für sich allein gesehen, nichts als Faktizität, Statik und gewissermaßen Schlacke ist.
Erheblich komplexer wird dieses immateriell Geistige bereits zwischen zwei Teilen und Gegen-Teilen und den zwischen ihnen unvermeidlich entstehenden/bestehenden Spannungen und Polaritäten: Denn es entsteht notwendigerweise sowohl eine Anziehung wie auch eine Abstoßung und Abgrenzung zwischen ihnen, sonst würden sie ja gar nicht für sich bestehen können, sondern in Eins zusammenfallen. – Diese Elementarverhältnisse sind, nebenbei und notabene gesagt, ein wunderbar fraktales Paradigma auch für sämtliche anderen und viel komplizierteren Teile und Gegen-Teile, die es gibt, von dunkel und hell bis zu Mann und Frau.
Zwischen drei Teilchen bestehen bereits alle jene komplexen Dreiecksbeziehungen, deren Prinzip vor mehr als 2500 Jahren schon Pythagoras aufgedeckt und die mathematische Wissenschaft dann verallgemeinert hat – darunter jene hochkomplexen Beziehungsgeflechte zwischen vielen (einfachen oder komplizierten) Atomen, zwischen einfachen und immer komplizierteren Molekülen bis hin zu jenen unendlich komplexen Beziehungen und Bezügen, die mit dem Auftreten von lebender Materie in Erscheinung treten.
Also gilt: Je komplexer die Materie ist, desto komplexer ist auch der Geist. Geist ist deshalb nicht, wie manche schwärmerischen Pseudomystiker und Pseudopantheisten unklar behaupten, ein der Materie sozusagen an- oder aufgeklebtes Höheres, sondern ein ihr obligat innewohnendes, abstraktes und damit eben „bloß geistiges“ Beziehungsgeflecht, das zwischen und hinter und mit allem Materiellen unausweichlich auf- und in Erscheinung tritt: Geist ist Beziehung, Geist ist das Dazwischen.
Geist, Materie und Wissenschaft
Und von hier aus rollt nun die evolutionäre Lawine, rollt die unvermeidliche simultane Differenzierung von Geist und Materie immer weiter und weiter nach immer denselben notwendigen und großartig einfachen und weisen Gesetzen des mit dem „Zufall“ – das Zufallende, das gerade Vorhandene – probeweise spielenden großen Ganzen und seinem notwendigen Gelingen oder Misslingen: selbsttätige Auswahl und Weiterentwicklung des sich Bewährenden, gesetzesmäßiges Misslingen und Verschwinden des nicht oder weniger Überlebens- und Entwicklungsfähigen. Aus einfachen Gegensatzspannungen werden komplizierte Konstellationen und damit auch Konflikte. Mit dem Auftreten von lebenden Systemen, oder vielmehr schon lange vorher entstehen eine Fülle von systemerhaltenden autopoietischen (= selbstorganisatorischen) Mechanismen und Rückkoppelungsschlaufen sowohl materieller wie damit obligat auch geistiger Art. Es entstehen Reflexe und Reflexionen, es entstehen Keime von Subjektivität und von Bewusstsein und Selbstbewusstsein – kurz: es entstehen immer komplexere „höhere“ Formen von Geist.
Und auf der Stufe des Menschen schließlich gehen auf der Basis dieser ständigen Differenzierung und Komplexifizierung von Geist und Materie (das Gehirn als „Sitz des Geistes“ ist bekanntlich die differenzierteste Materie, die es gibt) auch erste Sach- und dann auch Welterklärungen hervor, tauchen zu ersten „Weltbildern“ verdichtete Ahnungen von „höheren“, mit dem Begriff von Göttern und Gott belegten Kräften und Mächten auf, die da überall am Werk seien. Und aus den frühen animistischen Welterklärungen und Vielgötterreichen emergiert schließlich, über ein sich Stufe um Stufe weiterdifferenzierendes „Hervordenken Gottes“ (wie Thomas Mann in seinem Josephsroman so großartig formuliert hat), die Idee einer hinter all dieser Vielfalt stehenden Einheit, eines großen Ganzen (im Sinn von „alles, was ist und wirkt“): Es entstehen mehr oder weniger gleichzeitig nicht nur die drei großen monotheistischen Religionen (religio = Rückbezug, Rückverbindung) des Judentums, Christentums und Islams, sondern auch die ersten umfassenden Philosophien (wie der Konfuzianismus, der Buddhismus) und die ersten Keime – insbesondere bei den griechischen Naturphilosophen und Sophisten – von dem, was wir heute Wissenschaft nennen. Alles entsprungen aus immer wieder denselben, aus der Angst und Ungewissheit des Daseins erwachsenden Grundfragen nach dem Wesen von uns selbst und der Welt – nach dem Was und Woher und Wohin und Wozu –, auf welche immer differenziertere (und damit auch immer wieder anders unzulängliche) Antworten versucht werden -geistige Antworten also, selbst wenn diese zum Teil rein materialistisch anmuten mögen.
Eine überraschende Konvergenz
»Das alles ist doch rein rationales wissenschaftliches Denken! Wo bleibt denn darin die Spiritualität?«, wird man mich einmal mehr fragen. – Gewiss, aber ein wissenschaftliches Denken, in dem auch alle Religionen, alle Vielgötter und jeder monotheistische Gott ihren respektvollen, weil in der Entwicklung unseres Denkens offenbar notwendigen Platz haben. Eine Wissenschaft ebenfalls, in der selbst noch die Kultur und die Technik als ein evolutionäres, immer denselben tiefen Grundgesetzen gehorchendes Gesamtgeschehen begriffen werden können. Grundgesetze zudem, in denen sich Spiritualität und Wissenschaft auf eine großartige und überraschende Weise treffen und versöhnen.
Was sind denn das für Grundgesetze? Es sind unglaublich einfache, nämlich auf einen möglichst ökonomischen Umgang mit Energie gerichtete Grundgesetze, wobei „Energie“ das erste und ursprünglich „Vorhandene“, aber in seinem eigentlichen Wesen nach wie vor Unbekannte ist.
In der Evolution überlebt auf Dauer nur (oder doch in erster Linie), so habe ich am Konrad-Lorenz-Institut gelernt, was mit weniger Energie zum selben Ziel gelangt: nämlich zum Ziel eines möglichst langfristigen und fruchtbaren Überlebens – und zwar primär der Art, nicht des Einzelnen. Oder mit anderen Worten: Was zu viel Energie verbraucht, überlebt auf Dauer nicht, sondern stirbt aus.
Was braucht weniger Energie?
Es ist ein Mechanismus oder vielmehr Prozess, den man im wissenschaftlichen Sinn als Synergie, und im weitesten und spirituellsten Sinn als Liebe bezeichnen kann und muss: Spannungs- und damit auch Energieoptimierung durch Konfliktminderung, Reibungsverminderung, Harmonisierung, Zusammenwirken, Kooperation – eben durch Synergie. Synergie ist ökonomischer als Dysergie. Synergie verbraucht weniger Energie, und ist damit überlebensfähiger. Das gilt auf der allereinfachsten Ebene genauso wie auf der komplexesten: Zwei Elementarteilchen oder auch Atome, die zusammen zu schwingen und zusammen zu wirken beginnen, anstatt unabhängig voneinander (oder gegeneinander) um ihr Überleben zu kämpfen, schaffen etwas Neues auf höherer Ebene, das beiden nützt: ein Win-win-Kooperationsprodukt – zum Beispiel ein stabileres Atom, ein stabileres Molekül und so weiter, das (zumindest lokal) weniger Gesamtenergie verbraucht und damit bessere Überlebenschancen besitzt.
Genau dasselbe passiert ebenfalls zwischen zwei Menschen, zwei Gruppen, zwei Konfliktparteien: Im Gleichschritt gehen ist weniger aufwendig als nicht im selben Schritt zu gehen. Liebe im weitesten wie engsten Sinn ist ökonomischer als Hass und Streit – und deshalb langfristig auch resistenter, überlebensfähiger: eine sowohl wissenschaftlich wie spirituell hoch bedeutsame Tatsache, die, weiter und zu Ende gedacht, langfristig ungeheuer positive Zukunftsperspektiven eröffnet.
Teil und Gegen-Teil brauchen einander
Aber, so wird man zu Recht einwenden, wie kommt es denn, dass die Welt voller Krieg und Hass, voller unversöhnlicher Gegensätze, kurz: voll von Unfrieden und „Bösem“ ist?
Kein Teil vermag zu existieren, so postuliere ich seit vielen Jahren, ohne sein Gegenteil. Der Teil bedingt und benötigt sein Gegen-Teil, das Eine kann ohne das Andere nicht sein, und dies vom einfachsten Elementarteilchen bis zu hochkomplexen sozialen Verhältnissen. Das (angeblich) „Gute“ wird durch das (angeblich) „Böse“ begrenzt, bezeichnet und damit auch konstituiert. Ohne Dunkelheit gibt es kein Licht, und umgekehrt. Dazu kommt noch: Das Gute des Einen ist sehr oft das Böse des Anderen und umgekehrt. Deshalb ist es eine Illusion, die Notwendigkeit aller Gegen-Teile des „Guten“, und damit letztlich auch von Aggression und Krieg und Gewaltsamkeit, „einfach so“ aus der Welt schaffen zu wollen. Alle diese Gegen-Teile werden, wie die Hydra oder der Phönix, aus Gründen der tieferen systemischen Notwendigkeit immer wieder neu entstehen und auferstehen, so oft man „das Böse“ auch radikal eliminiert zu haben glaubt.[1]
Aber selbst diese offenbare Unausweichlichkeit des Anderen oder „Bösen“ ist nicht zum Verzweifeln. Denn aus dieser notwendigen Konflikt- und Gegensatzspannung zwischen Pol und Gegenpol entsteht auch immer wieder Neues und Komplexeres und damit zugleich „Höheres“. Ich denke dabei etwa an den Prozess der Abstraktion, und dabei insbesondere an Piagets Schlüsselbegriff der „majorisierenden Äquilibration“, der Entdeckung einer bisher verborgenen Gemeinsamkeit im Unterschiedlichen als immer neu entscheidender Motor der geistigen Entwicklung des Kindes, des Menschen überhaupt.[2] Und da jedem dieser schöpferischen Vereinigungen von Gegensätzen auf höherer Ebene immer wieder der gleiche ökonomische („Liebes“-)Mechanismus zugrunde liegt, nämlich die Entdeckung einer spannungsmindernden Möglichkeit der Synergie hinter allen vorbestehenden Dysergien, so entsteht auf diese Weise langfristig etwas notwendig Harmonischeres und damit auch „Liebevolleres“. - Das ungeheuer großartige und weise Wunder der Evolution entsteht oder besteht also aus Liebe, so könnte man verkürzt formulieren – und wenn das nun nicht eine wunderbare Vereinigung und Versöhnung von Wissenschaftlichkeit und Spiritualität ist, dann kann ich meinen Kritikern auch nicht weiterhelfen…
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In diesen gleichen Rahmen gehört sowohl das evolutionäre Hervordenken des gewalttätigen, strafenden, grausamen und furchtbaren (aber zugleich auch herrlichen, allmächtigen und nur „uns“, dem auserwählten Volk und Land Israel zur Verfügung stehenden) Auge-um-Auge- und Zahn-um-Zahn-Gottes des Alten Testaments (diese in der Bibel immer wieder neu betonte Abgrenzung von allem und allen nur möglichen Gegen-Teilen, von „Heiden“, „Barbaren“ und „Frevlern“ war und ist offenbar auch heute noch für den Staat Israel notwendig, um sich selbst zu konstituieren und seine gefährdete Identität zu befestigen) wie ebenfalls das (letztlich kollektive, wenn auch scheinbar nur durch eine einzige Person, nämlich Jesus, verkörperte) Hervordenken einer neuen und viel allgemeiner gültigen, alltoleranten, allverzeihenden und der ganzen Menschheit zur Verfügung stehenden Gottesidee der Christen. Und gewiss gehört hierzu ebenfalls das Hervordenken des (scheinbar) neuen und wiederum sehr autoritären Gottes von Mohammed, von dessen Tiefen und Schönheiten wir Juden und Christen wegen der offenbar weiter bestehenden (und im Zeitalter des islamistischen Terrors ständig neu geschürten) vitalen Notwendigkeit, uns von diesen „Anderen“ aggressiv abzugrenzen, wir vorderhand möglichst wenig wissen wollen – wie umgekehrt natürlich auch die Muslime von Juden und Christen.
Suche nach Harmonie
Die drei großen Monotheismen sowie der Buddhismus und Konfuzianismus sind Variationen ein und desselben Suchens nach einem sanfteren und friedlicheren „Etwas“ hinter allem, auch „Gott“ genannt. Hinter ihnen allen steht die (vergebliche?) Suche nach mehr und mehr Harmonie, die ja irgendwann nicht mehr weitergehen kann, da letzte Harmonie auch Stillstand, Ruhe und Tod bedeuten müsste.
Religion, Philosophie und Wissenschaft wären also letztlich „nichts als“ eine Suche nach Liebe im weitesten Sinn?
„Liebe“ wäre dann die konstituierende Grundmacht hinter allem, was ist: notwendige Evolution zu größerer Harmonie und Ökonomie durch immer neue und notwendige Konfliktlösung, was aber auch hieße: Notwendigkeit des Konflikts, Notwendigkeit der Spannung, immer neue Notwendigkeit von Abgrenzung und Unterscheidung, „Vereinzelung“ als Voraussetzung für alle weitere Evolution.
Konflikt, Krieg, Unfrieden sind also offenbar notwendig, um neue und differenziertere Lösungen, neue Gegen-Teile zu ermöglichen. „Ich bin ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, sagt Goethes Mephistoteles in „Faust“.[3]
Ewige, notwendige Gesetze. Ökonomiegesetze, Energiegesetze: überall gültig, auch in der Entwicklung des Kosmos, sowohl schöne als auch schreckliche Entropie- bzw. Antientropiegesetze, in allem mehr verborgen als offenbar.
Meine Spiritualität
Diese ganze Denkspur, diese „Wissenschaft“ oder doch in einem weiten Sinn wissenschaftliche Weltsicht ist zugleich meine Spiritualität, mein Gottvertrauen, mein Vertrauen auf die (unendlich lange) Evolution und Zukunft, mit Einschluss aller möglichen Evolution von Kultur und Technik, die genau den gleichen Ökonomiegesetzen gehorchen (müssen).
Wobei freilich Gefahr, Risiko, Scheitern und Tod allem Aufgebauten und Lebenden ständig drohen - unter anderem, weil auch sie als notwendiges Gegen-Teil und Schreckgespenst offenbar obligat und unabdingbar dazugehören.
Luc Ciompi (*1929), Schweizer Psychiater, Schizophrenieforscher, Vorkämpfer für eine integrative Psychiatrie und Begründer der Affektlogik, wird neunzig. Er lässt uns teilhaben an einer Fülle von persönlichen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Reflexionen. Sie zeigen, dass auch das hohe Alter eine faszinierende Zeit voller unerwarteter Höhen und Tiefen sein kann. Alle bisherigen Beiträge von Luc Ciompi finden Sie hier.
[1] So sprach etwa amerikanische Soziologe Francis Fukuyama völlig “daneben”, wie sich seither gezeigt hat, vom „Ende der Geschichte“, nachdem 1989 die Berliner Mauer gefallen und kurz darauf das ganze „böse“ Sowjetreich – und damit scheinbar „das Böse“ überhaupt – zusammengebrochen war. Vgl.: Fukuyama, F. (1992). Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler.
[2] Piaget, J. (1976). Die Äquilibration der kognitiven Strukturen. Stuttgart: Klett.
[3] Goethe, J. W. v. (1808/1982). Faust I, Werke – Hamburger Ausgabe Bd. 3, Dramatische Dichtungen I (11. Aufl.). München: dtv. S. 47.