Geschichte in den Social Media
Kompetenzorientiertes Geschichtslernen und innovative Erinnerungskulturen
Historische Personen erreichen heute in den sozialen Medien ähnliche Reichweiten wie bekannte Influencer*innen der neuen digitalen Popkultur. Aktuell hat das Instagramprojekt @ichbinsophiescholl von SWR und BR fast eine halbe Million Follower*innen. Anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl erzählt der Instagramkanal in Echtzeit die letzten 10 Monate des Lebens von Sophie Scholl bis zu ihrer Verhaftung und Ermordung. Social Media könnten zum zentralen Medium der Geschichtserzählung des 21. Jahrhunderts werden. Längst nutzen Institutionen der Geschichtskultur wie das Anne-Frank-Haus in Amsterdam (Niederlande) oder die Gedenkstätte Auschwitz in Oświęcim (Polen) Social Media, um die Geschichte ihrer historischen Orte quellennah täglich für ein Millionenpublikum zu erzählen.
Geschichtslernen mit Social Media
Chancen für historisches Lernen bieten Social Media vor allem, weil sie Einsichten in den Konstruktcharakter von Geschichte ermöglichen. Die mediale Ahistorizität der inszenierten Darbietungssituation spielt dabei eine herausgehobene Rolle. Denn durch die mittels z. B. über Instagram hergestellte Distanz wird die Gefahr eines naiven Fehlschlusses verringert, man folge tatsächlich einer historischen Person. Für die Nutzer*innen von @ichbinsophiescholl dürfte es auf der Hand liegen, dass Sophie Scholl nicht auf Instagram aktiv ist und täglich Beiträge und Insta-Stories veröffentlicht. Dennoch wird eine quellengesättigte fiktive Erzählung inszeniert, deren Verlauf es weiter zu beobachten gilt. Weitere Lernchancen bieten aktuelle Bezüge in die gesellschaftliche Gegenwart. Geschichtslernen muss immer auch in aktuelle politische und gesellschaftliche Kontexte eingebunden sein.
Geschichte kontrovers
Social Media bilden einen diskursiven Mikrokosmos aktueller gesellschaftlicher Kontroversen ab, der Geschichtsdeutungen und Perspektiven auf die Vergangenheit der Geschichtskultur gegenwarts- und lebensweltnah in Form von kurzen Texten vermittelt wie kaum andere Medien. Ein Beispiel hierfür ist die Verleihung des Musikpreises ECHO an die beiden Hip-Hop-Musiker Kollegah (Felix Blume) und Farid Bang (Farid Hamed El Abdellaoui). Die Verleihung hatte unmittelbar zu einer breiten öffentlichen Kontroverse geführt. Ausgangspunkt waren die antisemitischen und gewaltverherrlichenden Texte allgemein, insbesondere aber die den Holocaust bagatellisierenden Worte „Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen“ des Liedes 0815 auf dem mit dem ECHO ausgezeichneten Album. Die Nominierung und die Verleihung wurden in den Tagen vor und nach der Preiszeremonie in den Social Media kontrovers diskutiert. Dabei wurden zahlreiche Positionierungen unter Bezugnahmen zum historischen Ereignis Holocaust aus unterschiedlichsten generationellen, kulturellen, institutionellen, gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Perspektiven eingenommen. Diese verdeutlichen verschiedene Positionen zur Frage der Angemessenheit der Auszeichnung der beiden Künstler in einer Breite und Fülle, wie kaum ein anderes Medium.
Geschichte und Erinnerung beurteilen
Mittels weniger kurzer Texte können Social Media lebenswelt- und gegenwartsnah aufzeigen, wie verschiedene politische und journalistische Institutionen oder Privatpersonen historische Sachverhalte kontrovers bewerten, verklären oder funktionalisieren. Lernende erkennen auf diese Weise die Relevanz von geschichtswissenschaftlicher Forschung, um mythische Verklärungen und populistische oder extremistische Instrumentalisierungen von Geschichte als „Fakes“ zu entlarven und zu dekonstruieren. Dabei können Schüler*innen eine Fähigkeit der politischen und historischen Urteilsbildung nicht theoretisch abstrakt, sondern an tagespolitisch konkreten Exempeln entwickeln und dabei neben der Kontroversität und Perspektivität auch den Konstruktcharakter und die Narrativität von Geschichte erkennen.
Partizipative Erinnerungskulturen
Geschichtserzählungen in den Social Media sind partizipativ. Jeder kann sich einbringen. Es können mehr Personen ihre Perspektiven vermitteln, ihre Zugänge zur Erinnerung suchen und finden, ihre Positionen, Wertungen, Einsichten präsentieren. Damit wird das Top-Down-Prinzip von Erinnerungskulturen offizieller Institutionen und Bildungseinrichtungen durch ein Bottom-Up der Nutzer*innen ergänzt.1 Social Media haben durchaus innovatives Potenzial, um neue kollektive und individuelle Erinnerungspraktiken zu entwickeln. Maßgeblich ist dabei sicherlich das partizipative Element, da Nutzer*innen mittels Social Media erheblich stärker als in anderen Medien sowohl den Erinnerungsprozess als auch das konkrete Medium transformativ gestalten können. Allerdings ist unübersehbar, dass in digitalen Räumen ohne professionelle geschichtswissenschaftliche Instanz – in Form einer Institution der Geschichtskultur, eines Historiker*innenteams oder einzelner Historiker*innen – die vermittelten Geschichtserzählungen häufig tendenziell beliebig, stark verzerrt oder erheblich ideologisch aufgeladen sind. Erinnerungskulturen in den Social Media benötigen auch die geschichtswissenschaftliche Forschung, um neben vielfältigen kreativen und fiktiven historischen Narrationen der Populärkultur auch quellengesättigte, multiperspektivische und kontroverse Geschichtserzählungen zu ermöglichen. Die Chance für professionelle Akteur*innen wie Museen, Gedenkstätten oder einzelne Historiker*innen besteht darin, dass sie die Erinnerungsdiskurse weiterhin durch ihre Expertisen prägen können, auch um politischen Instrumentalisierungen entgegenzuwirken.
Altbekannte Narrative in neuen Medien
Die Analysen von Social-Media-Auftritten v. a. von historischen Personen zeigen deutlich, dass hier der Geschichtswissenschaft altbekannte Diskurse und Narrative reproduziert werden. Die Beliebtheit von Geschichtsmythen in den Social Media − wie der Mythos, Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß sei 1987 im Gefängnis vom britischen Geheimdienst ermordet worden – kann dies sehr deutlich belegen. Die Verehrung Anne Franks mit Ansätzen zivil-religiöser Bewunderung oder die Heroisierung Claus Stauffenbergs sind weitere Belege für diskursive und narrative Fortführungen bekannter Erinnerungskulturen. Die historische Person Claus Stauffenberg ist auf Instagram und Co. unübersehbar mit der Zuschreibung „Held“ verknüpft. Die Blockbuster „Valkyrie“ (2009) mit seiner starken Fixierung auf die Rolle, die Stauffenberg beim Attentatsversuch auf Hitler einnahm, hat in den Social Media deutliche Spuren hinterlassen. Denn häufig verschmelzen fiktive Filmfigur in der Verkörperung durch Tom Cruise und realhistorische Person narrativ, diskursiv und medial. Die Erzählung der Geschichte Anne Franks in den sozialen Medien prägen erheblich Diskurse der Sakralisierung, Universalisierung und Ikonisierung. Anne Franks Geschichte, das Tagebuch und der historische Ort Anne-Frank-Haus erscheinen als Bestandteil einer modernen Zivilreligion, in der Anne Frank zur Ikone und zur moralischen Leitfigur aufsteigt, während das Tagebuch zum pseudoheiligen Text und das Anne-Frank-Haus zum pseudoreligiösen Pilgerort avancieren.
Erinnerungsmuster durchbrechen
Geschichtserzählungen in den Social Media durchrechen wirkungsmächtige diskursive Erinnerungsmuster. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn auf der Akteur*innenseite Vertreter*innen der historischen Forschung dominieren. Das Twitter-Projekt @9Nov38 des Historikerteams um Moriz Hoffmann zeigt, dass über Jahrzehnte populäre Geschichtsnarrative zu den Novemberpogromen aktiv und explizit durchbrochen werden können. Erzählungen, die die Novemberpogrome als scheinbar „täterlos“ erzählen, wird durch eine an historische Quellen rückgebundene Erzählung entgegengewirkt. Auch der Mythos, es habe sich nur um vereinzelte Gewalttaten gehandelt, wird auf @9Nov38 durch die Lokalisierung von Verbrechen an einer Vielzahl über das gesamte deutsche Reich verteilten Orten durchbrochen. @9Nov38 vermittelt zudem, dass sich systematisch ausgeübte Gewalt im Herbst 1938 nicht auf materielle Strukturen wie Infrastruktur, Institutionen und Eigentum beschränkt hatte, sondern exzessiv gegen jüdische Personen ausgeübt worden war.
Social Media als Medium der Geschichtserzählung des 21. Jahrhunderts
Geschichtserzählungen haben heute ihren festen Platz im Erinnerungsmedium Social Media. Dabei bieten die sozialen Medien gleichermaßen erhebliche Chancen für kompetenzorientiertes Geschichtslernen und für innovative Erinnerungskulturen.
1 Samida, Stefanie: Selfies machen in Auschwitz? In: Public History Weekly 7 (2019) 25, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2019-14095 (Zugriff am 01.05.2021).
Dr. Hannes Burkhardt ist Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Als Studienrat unterrichtet er an der Europaschule Oskar-Picht-Gymnasium die Fächer Geschichte und Deutsch.