Geht Ihnen langsam die Puste aus, was die Pandemie betrifft? Dagmar Kumbier und Constanze Bossemeyer verraten im Interview, wie Sie mit belastenden Gefühlen umgehen und auch andere diesbezüglich besser verstehen können.
Omikron noch nicht verdaut und Deltakron vielleicht schon in den Startlöchern: Wer die ersten Wellen noch einigermaßen überstanden hat, wird spätestens jetzt coronamüde: Warum ist das so?
Als die Pandemie im Frühjahr 2020 in Deutschland ankam und unser Leben plötzlich stillstand, waren wir zwar auf eine harte Wegstrecke einstellt, durften aber glauben, es im Herbst geschafft zu haben. Als dann die Zahlen im Herbst wieder stiegen und ein neuer Lockdown kam, dachten wir, dass wir uns bis Weihnachten zusammenreißen müssten und uns danach beim Fest im Kreise der Familie von der Strapaze erholen könnten. Es kam anders. Aber immer noch gab es Hoffnung auf eine Impfung, mit der dann ja der ganze Spuk vorbei sein würde!
Wir sind also mit dem Bild gestartet, eine Kurzstrecke, mit Pech eine Mittelstrecke bewältigen zu müssen. Vielleicht ein steiniger Weg, aber das Ziel war in Sicht! Spätestens im Frühjahr 2021 wurde deutlich, dass das keineswegs sicher war. Diese Erkenntnis kam einem inneren Erdbeben gleich.
Die Strategien, die uns bisher geholfen hatten, die Krise zu bewältigen, waren für Kurz- und Mittelstrecke gemacht. Auf einem Marathon geht einem damit schnell die Puste aus. Und so haben wir versucht, uns erneut anzupassen, uns zusammengerissen und erschöpft und tapfer weiter gemacht. Erneut schien die Ziellinie definiert: Im Herbst 2021, wenn genug Menschen geimpft sind, dann ist es nun wirklich endlich vorbei!
Dann kam nicht nur eine geringe Impfquote dazwischen, sondern auch noch Omikron – und die Zahlen explodierten erneut. Die Erkenntnis, dass es doch noch nicht zu Ende ist, kam den Gefühlen nah, die eine Marathonläuferin verspürt, die fünf Meter vor der Ziellinie die Ansage per Megaphon vernimmt: »Wir verlängern den Wettkampf um eine unbestimmte Strecke und bitten Sie, gleich weiterzulaufen!« Wen wundert es, dass spätestens jetzt selbst diejenigen, die bisher gut durch die Krise gekommen sind, coronamüde werden!
Jahre im Empörungs-, Wut- oder Angstmodus hält niemand durch: Welche Tipps haben Sie, um gut durch die nächsten Wellen zu kommen?
In der Coronakrise erleben wir, dass wir einen großen Teil unseres persönlichen Lebens nicht mehr so gestalten können, wie wir es uns wünschen. Die Regeln, was erlaubt ist und was nicht, ändern sich ständig und werden über unseren Kopf hinweg festgelegt. Zugleich haben die Maßnahmen großen Einfluss auf unser alltägliches Leben und schränken uns zum Teil massiv ein. Und das Virus mutiert, wie es will. An all dem ist nichts zu ändern, es liegt außerhalb unseres Einflussbereiches. Kurz: Wir fühlen uns ohnmächtig und hilflos. Und Ohnmacht ist etwas, das wir Menschen schlecht ertragen können.
Daher ist es in der Bewältigung von Krisen hilfreich, aktiv zu werden. Das führt aus der Hilflosigkeit heraus und schafft ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. So gibt es zum Beispiel sehr wirksame Methoden, um das Autonome Nervensystem, das in Krisenzeiten den Körper in einen alarmierten Zustand versetzt, zu beruhigen.
Und es ist gut, zu schauen, welche inneren Anteile in uns auf die Krise reagieren – um die eigenen Gefühle und Belastungen besser verstehen und sich selbst besser coachen zu können. Das Modell das Inneren Teams eignet sich hervorragend dafür.
Drittens schließlich kann es hilfreich sein, die eigenen Ressourcen zu aktivieren, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens gesammelt hat. Sich dieser inneren Kräfte bewusst zu werden und sie nutzen zu lernen, kann sehr zur Krisenbewältigung und zum Durchhalten beitragen. In unserem Buch »Zuversicht trotz Corona-Blues« erläutern wir nicht nur typische innere Reaktionen auf die Krise, sondern tragen auch entsprechende Bewältigungsstrategien zusammen.
Gerade viele Fachkräfte im Bereich seelische und körperliche Gesundheit sind gerade ordentlich gefordert: Auf was sollten Menschen, die andere unterstützen, besonders achten?
Viele Menschen, die sich jetzt Hilfe suchen, sind besonders belastet. Zu den normalen Themen, die weiterhin bestehen, kommt häufig ein Bedrohungsgefühl verbunden mit innerer Anspannung hinzu. Zugleich leiden unsere Klientinnen und Klienten unter dem Gleichen wie wir selbst. Die gesamte Situation trifft uns ja auch – und zwar in gleicher Weise. Unsere Klienten fordern uns also an einer Stelle, an der wir selbst belastet sind.
Zudem haben wir normalerweise einen Erfahrungsvorsprung – aber eine Pandemie ist auch für uns neu! Die Krise trifft uns zeitgleich mit unseren Klientinnen und wir möchten sie unterstützen, während wir selbst noch damit beschäftigt sind, uns zu orientieren und zurechtzufinden. Wir kriegen das hin – aber es ist sehr anstrengend!
Viele Psychotherapeutinnen, Berater, Lehrerinnen, Erzieher, Pflegende, Krankengymnasten berichten, wie überbeanspruchend ihre Arbeit momentan ist, wie erschöpft sie sind. Daher ist Selbstfürsorge für Menschen, die therapeutisch, beratend, in der Pflege oder im Gesundheitswesen tätig sind, aktuell besonders wichtig.
Welche Frage hätten Sie noch erwartet, was möchten Sie uns gern noch mit auf den Weg geben?
Eine wichtige und aktuelle Frage, die wir zurzeit bedeutsam finden ist: Was tun gegen die Polarisierung in der Gesellschaft?
Uns ging es in unserem Buch auch darum, Theorien und Modelle als Grundlage für gegenseitiges Verständnis zur Verfügung zu stellen. Menschen sind verschieden und reagieren deshalb auch sehr verschieden auf die Herausforderungen, die uns die Pandemie individuell aufgibt. Was uns Menschen aber eint: All diesen unterschiedlichen und teilweise extremen Reaktionen liegt dasselbe Gefühl zugrunde, nämlich Angst!
Angst vor Ansteckung oder Impfung, Angst vor Freiheitsverlust und Beschneidung der Grundrechte, Angst vor Verlust der beruflichen Existenz ... Wenn es gelingt, hinter die von uns vielleicht als unvernünftig oder befremdlich wahrgenommene Reaktion zu schauen und wir beginnen, uns für die Ängste und Motive unseres Gegenübers zu interessieren, dann kann ein Dialog wieder möglich werden.
Das setzt voraus, dass wir beginnen zuzuhören, statt überzeugen zu wollen. Dabei gilt: »Verstehen heißt nicht gleich einverstanden sein!« Wir können trotzdem weiterhin unsere eigene Position vertreten. Wenn wir versuchen, unser Gegenüber zu verstehen, und es uns gelingt, ein wenig in Kontakt mit den Gefühlen hinter den Kulissen zu kommen, müssen wir Menschen, die anders denken als wir, nicht mehr verteufeln, sondern können sie als Menschen verstehen, die auf ihre Weise und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten versuchen, sich ihren Weg durch diese Pandemie zu bahnen.
Weitere Beiträge zu unserem Kleinen KrisenKompass finden Sie hier.
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