2019. Es ist Zeit, Offenbach wiederzuentdecken!

Es hätte so schön sein können. 1919, genau einhundert Jahre nach der Geburt Jacques Offenbachs, hätte man ein wunderbares großes Jubiläum feiern können, mit Opernaufführungen, Konzerten und Veranstaltungen – in seiner Geburtsstadt Köln und in seiner Wahlheimat Paris.

Stattdessen nur wenige Artikel in spezialisierten Musikzeitschriften, eine kleine Sondervorstellung zugunsten der befreiten Elsass-Lothringer an der Pariser Oper, an der Comédie-Française ein kleiner Einakter in einer Matinee – und in Deutschland, zumal in Köln: so gut wie nichts. Wenige Monate nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, wenige Wochen nach dieser europäischen „Urkatastrophe“, in der sich ausgerechnet Franzosen und Deutsche jahrelang abschlachteten, ist irgendwie keinem nach Cancan und Barkarole zumute.

„Diese Musik kann Tote erwecken“ – so 1858 ein Kritiker über Offenbachs Musik. Sie scheint es auch heute noch zu können, zumindest sind Offenbachs Melodien präsent wie kaum die anderer Komponisten: der „Cancan“ etwa, genauer: der Höllengalopp aus Orpheus in der Unterwelt, der wie kein anderes Werk für freudig ausgelassene Lebenslust und für „joie de vivre“ steht, oder die Barcarole aus Hoffmanns Erzählungen, deren irisierende Melodie überall, wo sie erklingt, surreale Traumwelten erstehen lässt. Es sind nicht nur solche Melodien, die Offenbachs Unverwechselbarkeit ausmachen. Es ist vor allem die Unverwechselbarkeit seines Musiktheaters, die ihn zu einem der größten Musikdramatiker der Musikgeschichte machte. Viel ist über den „Erfinder der Operette“ gefachsimpelt worden – doch sind Offenbachs vermeintliche Operetten eben gerade nicht die zuweilen entsetzlich selbstgenügsamen und bedenklich „heiteren“ Unterhaltungsnummern, die schmerzfrei unterhalten sollen. Offenbachs Werke, gerade seine erfolgreichsten, treffen stets ins Schwarze. Sie provozieren im besten Sinn: sie rufen auf, ja sie rütteln auf. Es sind stets die vermeintlich Kleinen, die vermeintlich Machtlosen, die sich als lebenstüchtiger und vor allem lebensfroher erweisen als die vermeintlich Großen und vermeintlich Mächtigen. Offenbachs Musiktheater feiert das Leben – gerade das Leben, das sich trotzig und „jetzt erst recht“ gegen jeden Widerstand durchkämpft.

Es dürfte eben an dieser gewaltigen Lebensfülle in Offenbachs Schaffen gelegen haben, dass seine Werke ein solch gewaltigen Erfolg hatten – und zwar weltweit. Sein Schaffen geht als das erste „globale“ Musiktheater überhaupt in die Musikgeschichte ein. Nicht nur, dass Offenbach seine Werke in Wien, London, Berlin oder Mailand selbst dirigiert, seine musikalischen Triumphe finden äußerst rasch ihre Fortsetzung auch in Madrid und St. Petersburg, in Budapest, Stockholm oder Lissabon – und nicht zuletzt ja auch in der „goldenen“ Wiener Operette wie auch in der englischen Savoy Opera. Schon 1858 – im Jahr der Uraufführung von Orpheus in der Unterwelt – werden Offenbachs Werke in den Vereinigten Staaten gespielt, wo sie später mit an der Wiege des Musicals stehen. Bereits ein Jahr nach der Gründung von Offenbachs eigenem Theater werden seine Stücke nach Brasilien exportiert. 1870 wird der Suezkanal, entgegen einer unausrottbaren Legende, nicht mit Verdis Aida, sondern mit Offenbachs Schöner Helena eingeweiht.Und eine der ersten in Japan gespielten europäischen Opern wird Offenbachs Blaubart sein.

Offenbachs Musiktheater ist modern, nicht nur weil es als tatsächlich „globales“ Musiktheater sehr früh weltumspannende Erfolge feiert, sondern auch weil ihm das gelingt, wo alle Mächtigen seiner Zeit letztlich scheitern. Keiner von diesen vermag es, die in ganz Europa 1848 gekeimten Hoffnungen in ein tragfähiges Projekt zu überführen, alle scheitern – die einen früher, 1870, die anderen später, 1918. Auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“, schafft Offenbach dagegen ab 1855 eine Welt, in der sowohl in Paris wie auch in Wien oder in Berlin ewiggestrige Royalisten, neureiche Schildbürger und auch sozialromantische Revolutionäre ihren wohlangestammten Platz finden können. Allerdings wird allen gründlich der Kopf gewaschen: dem bequemen Geigenlehrer Orpheus, dem seine antiken Wurzeln schlicht wurscht sind, der liebestollen Großherzogin, die so ganz und gar nicht großherzogliche Affären pflegt, oder den vergnügungssüchtigen Touristen aus nah und fern, die sich im ach so frivolen Pariser Leben von Hinz und Kunz ausnehmen lassen – und nicht zuletzt auch dem Publikum, das nicht anders als lachen kann über Dinge, die doch eigentlich so gar nicht zum Lachen sind.

Offenbach scheut sich nicht vor den großen Themen seiner Zeit – so etwa die tiefe Sehnsucht nach Einheit und Friede in Europa, die in den Rheinnixen geradezu elegisch zum Ausdruck kommt. Gleichwohl mag es erstaunlich klingen: Von politischen Festlegungen hat sich Offenbach zeitlebens ferngehalten, er war bemerkenswert apolitisch. Dass sein Werk später dennoch – gerade 1919, in den europäischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts – als ein äußerst politisches gelesen wurde, zeigt, wie sehr die Welt, die den Komponisten hervorbringt, geradezu als Nukleus der Moderne verstanden werden muss. Sein Musiktheater nimmt auch in seinen ökonomischen, politischen und letztlich auch ästhetischen Dimensionen das 20. Jahrhundert vorweg: Musik, Macht und Massenunterhaltung, Öffentlichkeit und Verführung, Entfremdung und Entfesselung. Offenbach gibt den Widersprüchen dieser Zeit künstlerisch ein Antlitz.

Und so gelingt Offenbach, nicht zuletzt etwa mit seinem Meisterwerk Hoffmanns Erzählungen, noch heute eine grandiose Synthese. Es ist nicht nur der Zweischritt von deutscher Innerlichkeit und französischer Leichtigkeit, Tiefsinn und Heiterkeit, Geist und Esprit, der seine Musik zu einer wahrhaft europäischen macht. Es ist auch der Dreiklang von pariser Charme, rheinischem Frohsinn und jüdischer Chuzpe – Offenbachs vielfältige Wurzeln, die in jedem seiner Werke durchklingen. Und, nicht zuletzt, sind auch die Botschaften seiner Werke europäische, moderne, heutige: sei es „Liberté, Égalité, Fraternité“ in Orpheus in der Unterwelt oder auch das romantische „Vaterlandslied“ in den weitgehend vergessenen Rheinnixen.

Es ist heute zwar vieles gut, aber beileibe nicht alles zum Besten bestellt – wie ja auch Offenbachs Werke durchaus lyrisch verzaubern können, dabei aber keineswegs gefühlsselig das Blaue vom Himmel versprechen, sondern eben immer auch den Finger in die Wunde legen. Vor allem aber darf uns 2019, anders als 1919, eben doch nach Cancan und Barcarole zumute sein. Es ist Zeit, mit Offenbach gemeinsam das Leben zu feiern – auch „jetzt erst recht“. Es ist Zeit ihn wiederzuentdecken.

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