Leonie Feuerbach ist Redakteurin bei der FAZ. Sie schreibt vor allem über soziale, psychologische und gesellschaftspolitische Themen. Im März erschien ihr erstes Buch »Fremd in der eigenen Familie« bei V&R SELF.
Frau Feuerbach, »Fremd in der eigenen Familie«, wieso gerade das Thema? Wie sind Sie darauf gestoßen?
Zum einen begegnet es mir immer wieder im Alltag. Etwa, wenn Bekannte erzählen, wenn sie zu Hause anrufen, wechseln sie drei Sätze mit dem Vater und dann heißt es immer: »Jetzt gebe ich dich mal an deine Mutter weiter.« Oder dass sie nach einer Viertelstunde zu Besuch bei den Eltern immer schon wieder wegwollen, weil sie es dort nicht ertragen können. Das waren immer mal wieder so Momente, wo ich ein bisschen hellhörig geworden bin, weil ich ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Eltern habe und mir das auch als Erwachsene noch eine gewisse Stabilität gibt. Und zum anderen interessiere ich mich einfach generell sehr für gesellschaftspolitische Themen und Konflikte und dafür, wie Menschen miteinander zurechtkommen, die verschiedene Einstellungen haben: Impfgegner mit Geimpften oder Pazifisten mit Menschen, die jetzt eine Aufrüstung der Bundeswehr befürworten. Und in Familien prallen oft Menschen mit unterschiedlichen Haltungen aufeinander, Menschen, die vielleicht niemals miteinander befreundet wären, weil sie so verschieden sind.
Und wie sind Sie vorgegangen, nachdem Sie das Thema gefunden haben?
Zunächst habe ich ein paar Leute angesprochen, die ich selbst kannte und von denen ich wusste, dass sie Konflikte mit ihren Eltern haben. Und ich habe vielen von dem Thema erzählt. Dann hieß es manchmal: »Da kenne ich jemanden …«. Außerdem habe ich in sozialen Medien gesucht, in Facebook-Gruppen, bei nebenan.de und sogar bei E-Bay-Kleinanzeigen. Das war ziemlich ergiebig, viele Menschen haben ein großes Bedürfnis, über dieses Thema zu reden. Das war die Seite der Betroffenen. Und bei den Fachleuten war es einfach klassische Internet- und Archivrecherche.
Die Buchstruktur gliedert Entfremdung in größere Themengebiete. Hatten Sie die bereits vorher im Kopf oder hat sich das ergeben?
Beides. Ich hatte relativ früh die Idee, das Buch nach Gründen der Entfremdung zu gliedern. Ein paar Gründe lagen von Anfang an auf der Hand. Mir war zum Beispiel klar, dass es um Politik gehen und ich vermutlich Leute finden würde, die eher links sind und deren Eltern AfD wählen. Andere Themen haben sich im Verlauf herauskristallisiert. Leute haben mir ihre Geschichte erzählt und darin ging es dann um Religion oder Einwanderung. Und dann habe ich gezielt nach weiteren Geschichten aus demselben Bereich gesucht. Und dabei auch auf Abwechslung geachtet. Ich wollte nicht dreimal erzählen, wie es linken Kindern rechtskonservativer Eltern geht, und habe dann zum Beispiel eine Frau gefunden, die unter ihren Alt-68er-Eltern gelitten hat, die sehr auf sich selbst und ihren politischen Kampf bezogen waren und ihre Kinder vernachlässigt haben.
Wenn Sie sich jetzt Ihre ganzen Gespräche im Nachhinein angucken: Wissen Sie jetzt, wie Fremdheit in der Familie entsteht? Welche Rolle spielen gesellschaftliche Prozesse und Entwicklungen wie räumliche und soziale Mobilität?
Ich glaube, es ist immer ein Zusammenspiel. Da, wo sehr gute Beziehungen in der Familie vorhanden sind, überdauern sie auch räumliche und soziale Distanz. Aber Mobilität hat sicherlich einen Anteil. Ich habe mit einer Frau geredet, die in Sachsen in einer Kleinstadt aufgewachsen und dann irgendwann nach Leipzig gezogen ist. Dort wurde sie Künstlerin und ihr Horizont weitete sich immer mehr, während der ihrer Eltern gefühlt immer kleiner wurde. Und als dann 2015 so viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, fühlten die Eltern sich bedroht von den vermeintlich Fremden, die es in der Kleinstadt gar nicht gab, und fingen an, das Tor vom Gartenzaun abzuschließen. Bei dieser Entfremdung spielt der räumliche Abstand eine Rolle, aber noch mehr der innere Horizont, der sich sehr verschoben hat. Ein anderes Beispiel, das gewissermaßen mit Mobilität zu tun hat, sind Familien mit Einwanderungsgeschichten. Da ist es ja eigentlich die Elterngeneration, die mobil ist und woanders hingeht und noch einmal ganz von vorn anfängt, aber dann die Sprache nicht mehr so gut lernt wie die eigene Muttersprache, die Kultur oft nicht mehr so annimmt wie die Herkunftskultur. Und die Kinder, die in Deutschland aufwachsen, fühlen sich ihren Eltern gegenüber oft ein bisschen fremd.
Es gibt in Ihrem Buch einen Fall, wo ein Sohn eingewanderter Eltern eigentlich immer enger an den Vater gebunden war, was sich erst änderte, als er mehr Zeit mit seiner Mutter verbrachte, deren Sprache lernte und so merkte, wie klug sie eigentlich war. Das fand ich spannend.
In dieser Geschichte spielen mehrere interessante Aspekte eine Rolle. Der eine ist, dass Familienbeziehungen immer im Fluss sind. Allein in den paar Monaten, die ich recherchiert und immer mal wieder mit den Leuten gesprochen habe, hat sich viel verändert. Der andere ist das Thema der Muttersprache. Die spielte bei mehreren Leuten, mit denen ich gesprochen habe, eine Rolle in der Entfremdung. Da war zum einen der iranisch-stämmige junger Mann, den Sie erwähnten. Der hat sich seiner Mutter erst angenähert, als er ein bisschen besser Farsi konnte. Ab diesem Moment hat er sowohl sie als auch seinen patriarchalen Vater, den er immer ein bisschen gefürchtet und bewundert hatte, mit ganz anderen Augen gesehen. Dann habe ich noch mit einer Frau gesprochen, deren Mutter aus Eritrea nach Deutschland kam und ihr Leben lang nur gebrochen Deutsch gesprochen hat. Die Tochter spricht aber auch kein Tigrinisch. Die beiden haben bis heute eigentlich keine gemeinsame Sprache und reden bruchstückhaft ein bisschen Deutsch, ein bisschen Tigrinisch, ein bisschen mit Gesten. Inhaltlich geht es meist um Alltägliches, Organisatorisches. Innigkeit ist da nicht vorhanden. Das fand ich sehr spannend.
Wie macht sich der Prozess der Entfremdung bemerkbar? Ist das etwas Schleichendes, was sich meistens erst vollständig zeigt, wenn man ausgezogen ist, wenn man sich abgenabelt hat? Oder beginnt es auch schon früher, in der Pubertät, wo man sich klassischerweise emanzipiert und selbstständiger wird und die Eltern noch einmal kritischer in Augenschein nimmt als als Kind?
Das ist sehr unterschiedlich. Eine Frau hat schon als Kind darüber nachgedacht, ob sie nicht vielleicht adoptiert ist, so fremd hat sie sich gefühlt. Bei vielen geht es in der Pubertät los, bei manchen tatsächlich erst mit dem Auszug – da hatte ich ja das Beispiel von der Leipziger Künstlerin genannt, die, solange sie noch zu Hause gewohnt hat, ein sehr gutes und enges Verhältnis zu den Eltern hatte. Bei vielen fiel mir auch auf, dass eigene Kinder eine Rolle gespielt haben, dass dann die Beziehung teilweise wieder enger wurde, aber auch konflikthafter. Immer wenn es Brüche und Übergänge gibt, sortiert sich auch die Beziehung zu den Eltern noch mal neu, dann kracht es teilweise auch.
Ist das Ihr Fazit, dass Familienbeziehungen immer im Fluss sind, dass sich da immer noch etwas zum Positiven wenden kann? Oder sagen Sie, das lässt sich gar nicht so pauschalisieren, weil menschliche Beziehungen so vielfältig sind, dass man gar nicht sagen kann, so wird es letztlich ausgehen – wann auch immer das Ende ist in dieser Eltern-Kind-Beziehung.
Das Ende kommt wohl erst mit dem Tod der Eltern, bei vielen nicht einmal dann. Ich glaube, gerade was bis dahin noch nicht ausgesprochen wurde, rumort noch weiter in den Leuten. Bis dahin sind die Beziehungen immer im Fluss und können sich auch noch mal verbessern. Was mir auch positiv aufgefallen ist: Relativ viele von den Leuten, mit denen ich gesprochen habe, sind in Therapie. Sie arbeiten also aktiv an den Problemen, die sie mit sich selbst oder den Eltern haben. Das ist auch deshalb gut, weil es in der Elterngeneration oft unbearbeitete Probleme gibt, die so im besten Fall nicht auf die nächste Generation übertragen werden. Ein sehr positives Beispiel war ein schwuler Mann mit türkischen Wurzeln. Seine Eltern hatten ein großes Problem mit seinem Coming-out, und er hat daraufhin gesagt, »wir gehen das jetzt zusammen an« – und hat sie zum türkischsprachigen Familientherapeuten geschleppt. Später hat er auch noch eine Einzeltherapie gemacht und da viel aufgearbeitet. Heute ist er, so mein Eindruck, sehr mit sich im Reinem. Seine Eltern sind in die Türkei zurückgegangen und er hat regelmäßig Kontakt mit ihnen, aber keine überzogenen Erwartungen an sie.
Also spielen transgenerationale Traumata eine Rolle? Und wenn man zu sehr an seinen Beziehungen in der Familie leidet, sollte man sich auf jeden Fall Hilfe holen?
Sich Hilfe zu holen, wenn man leidet, ist auf jeden Fall immer sinnvoll. »Traumata« ist natürlich so ein großer Begriff und wird heute sehr schnell inflationär verwendet.
Vielleicht eher Beziehungsmuster, die sich zwischen den Generationen wiederholen?
Genau. Beziehungsmuster trifft es sehr gut. Da fällt mir direkt der Fall eines jungen Manns ein, dessen Eltern sich getrennt hatten, als er erst zweieinhalb war. Der Vater hatte dann wechselnde neue Freundinnen und war eher unzuverlässig, ein flatterhafter Typ. Und darunter leidet sein Sohn. Er ist auch in Therapie und konnte sich erst dort eingestehen, dass ihm der Vater gefehlt hat, und er sich mehr Beständigkeit in der Beziehung gewünscht hätte. Ohne diese Therapie, so lässt sich vermuten, würde er später vielleicht selbst ungewollt in erlernte Beziehungsmuster reinrutschen. Dank der Therapie aber wird er hoffentlich später einmal seinen eigenen Kindern eine verlässlichere Beziehung anbieten können.
Haben Sie denn das Gefühl, dass Eltern-Kind-Beziehungen heutzutage, pauschal gesprochen, gut sind? Besser sind als früher? Oder waren Sie erstaunt, wie viele es doch waren, die sich entfremdet fühlen?
Ich war schon ein wenig erstaunt, wie viele Menschen mit mir sprechen wollten. Und gegen Ende meiner Recherche wurde zum Thema eine große Studie mit zehntausend Teilnehmer:innen veröffentlicht. Laut dieser Studie sind bei den 18- bis 45-Jährigen neun Prozent von der Mutter und 20 Prozent vom Vater entfremdet. Die Studie hat aber auch gezeigt, dass sich das verändert hat über einen gewissen Zeitraum. Bei vielen wurde es mit der Zeit auch wieder besser.
Was die Frage betrifft, ob Eltern-Kind-Beziehungen heute besser oder schlechter sind als früher: Dazu gibt es leider keine Studien. Es gibt keine Untersuchungen, die etwa einen Vergleich mit den 1950ern erlauben würden. Im Vergleich etwa zu den 68-ern, wo es zum guten Ton gehörte, gegen die Alten zu rebellieren, ist vermutlich heute die Beziehung eher besser und auch über Distanzen hinweg enger. Kommunikationsmittel wie zum Beispiel WhatsApp gibt es ja noch nicht so lange. Aber das macht sicherlich auch etwas mit Familienbeziehungen, wenn man sich mal eben über Ländergrenzen hinweg ein Foto, ein Video oder eine Sprachnachricht schicken kann.
Vielleicht sind die Erwartungen an eine Eltern-Kind-Beziehung heute auch andere als vor fünfzig Jahren, wo man vielleicht gar nicht erwartet hätte, dass man am Telefon auch mal mit dem Vater ein bisschen plaudert?
Absolut, das ist auch eine Generationenfrage. Ich hatte auch mit einem Mann Mitte dreißig Kontakt, dessen Vater schon auf die achtzig zugeht. Da sagt der Sohn ganz klar: »Der ist aus einer anderen Generation, als die Vaterrolle noch eine andere war.« Als elfjähriger Junge ist dieser Mann mal ohne seine Eltern auf eine Chorfahrt gefahren. Er war ein bisschen aufgeregt und wäre am liebsten einfach in den Arm genommen worden, aber sein Vater, der ihn zum Bus brachte, sagte zum Abschied »Mach’s gut, mein Sohn« – und hat ihm die Hand geschüttelt. Das war etwas, was sich bei ihm ganz stark eingebrannt hat. Dieser Mann ist jetzt selbst Vater und hat eine viel innigere Beziehung zu seinem Kind. Gerade die Beziehungen von Vätern zu ihren Kindern wird in der Tendenz immer besser und die Forschung erkennt auch viel mehr an, wie wichtig Väter für die Entwicklung von Kindern sind.
Das Interview wurde von Imke Heuer, verantwortliche Lektorin für unsere V&R SELF Ratgeber, geführt.