Die Hitlerjugend. Geschichte einer überforderten Massenorganisation

Die Hitlerjugend - ein Stereotyp der NS-Geschichtsschreibung?

Fällt der Begriff „Hitlerjugend“, läuft vor dem inneren Auge unwillkürlich ein Film mit stereotypen Bildern ab: uniformierte Kinder, junge Männer und Frauen, umsäumt von Hakenkreuz-Fahnen, im Gleichschritt beim Marsch und Drill, bei Kraftproben oder vor kultischer Kulisse – eine verführte, gleichgeschaltete, hörige Jugend. Filme, Fernsehdokumentationen und Buchumschläge haben diese Motive im Gedächtnis fest verankert. Gewiss, diese Bilder lügen nicht. Dennoch handelt es sich dabei nur um Ausschnitte, oft der Propaganda entnommen, die vor allem die Selbstinszenierung der Jugendorganisation widerspiegeln. Stimmen sie mit der Alltagsrealität überein? 

Mit „Die Hitlerjugend. Geschichte einer überforderten Massenorganisation“ habe ich die mehrjährige Beschäftigung mit dieser Frage zu einem Ende gebracht. Ein Projekt des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, an dem ich vor einigen Jahren dankenswerterweise kurzeitig mitwirken durfte, leistet unter der Leitung von Dr. Martin Rüther und Dr. Karin Stoverock großartiges: auf den Webseiten Jugend! Deutschland 1918-1945 werden unter anderem Zeitschriften, Fotoalben, Tagebücher oder Briefe gesammelt, wissenschaftlich eingeordnet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Außerdem gibt es dutzende lebensgeschichtliche Zeitzeugeninterviews zu entdecken. Das NSDOK legte das Material 2016 für eine außergewöhnliche Ausstellung zusammen. Der Titel, und man beachte hier das Fragezeichen, lautete: „Jugend im Gleichschritt!? Die Hitlerjugend zwischen Anspruch und Wirklichkeit.“  

Die Hitlerjugend - romantisch verklärt und überzeichnet?

Der Mensch neigt dazu, seine Jugend zu romantisieren. Und mancher Zeitzeuge rechtfertigt das nicht zu Rechtfertigende. Wer also sagt, die Hitlerjugend sei anders gewesen, als wir es uns vorstellen, dem traut man in der Regel nicht über den Weg. Allerdings haben sich selbst einige Historiker, die der Relativierung unverdächtig sind, skeptisch über die vermeintliche Omnipotenz der Hitlerjugend geäußert – zumindest, wenn sie über eigene Erfahrung berichteten. Arno Klönne, der während des Krieges im Paderborner Umland zur illegalen bündischen Jugend gefunden hatte, blickte zurück:

„Wenn ich mich an die Hitler-Jugend oder das Jungvolk erinnere, so ist dort ideologische Schulung auch meiner Erfahrung nach wenig vorgekommen.“1

Die Hitlerjugend ohne erhebliche Indoktrination? – diese Aussage scheint problematisch, ja beinahe undenkbar. Klönne sprach an dieser Stelle über seine persönliche Erfahrung, nicht im Namen anderer, schon gar nicht für die Hitlerjugend als Organisation. Dennoch: Kann es stimmen, dass er zumindest dort mit Ideologie wenig in Berührung kam, und wenn ja, weshalb? Ist es möglicherweise andernorts ähnlich gewesen?  

Diverse Quellen stehen zur Verfügung, um die Propagandakulisse der Hitlerjugend zu hinterfragen und ihre Geschichte gegen den Strich zu bürsten: Materialien der Opposition und der Emigranten, hier in erster Linie die sozialdemokratische Exilpresse, oder Lageberichte der Gestapo, die um schroffe Kritik an der Jugendorganisation durchaus nicht verlegen war. Keine unproblematischen Quellen, wie wir seit Langem wissen, weil sie aus verschiedenen Motiven die Kritik an der Hitlerjugend überzeichneten. Dokumente aus dem Inneren der Organisation sind daher erforderlich, um dem Alltagsgeschehen und ihrer Situation an der Basis auf die Spur zu kommen: Tagebücher der einfachen Mitglieder oder die Aufzeichnungen einzelner Einheiten, in denen sich junge Menschen engagierten. Interne Befehlsblätter der Hitlerjugend sind durch die Forschung bislang wenig bis gar nicht beachtet worden. Mein Buch räumt ihnen größeren Stellenwert ein. Anders als im Falle von Zeitschriften und Jugendmagazinen lag ihr Zweck nicht primär in Propaganda, obgleich sie davon nicht frei waren, sondern in der Steigerung bürokratischer Effizienz und interner Kommunikation. Das Gros dieses Quellenmaterials setzt sich aus Befehlen und Anweisungen des mittleren und höheren Führerkorps an die jungen, ehrenamtlich tätigen Unterführerinnen und Unterführer zusammen. Sie bringen in spannender Offenheit auch organisatorische Missstände zur Sprache, weil deren Behebung das Ziel der Verantwortlichen sein musste.  

Um es kurz zu fassen: Handlungsspielräume blieben immer vorhanden, und ebenso Lücken im Überwachungsnetz, durch die junge Menschen dauernd schlüpften. Um das zu verstehen, sollte man sich klar machen, was dem enormen Mitgliederwachstum 1933/34 in der Praxis folgte. Die neu aufzubauende Hitlerjugend-Bürokratie hielt mit den Eintrittswellen und Zwangsüberführungen allenfalls schleppend Schritt. Oft genug strauchelte sie. Als sich die Lage aus Sicht der Funktionäre ab Mitte der 1930er Jahre stabilisierte, schuf der Kriegsbeginn 1939 erneut Probleme. Mit dem Einzug junger Männer zur Front kamen junge Unterführer abhanden, regulärer Dienst fiel mancherorts aus, Kontrollen wurden erschwert. Hinzu kam, dass die Hitlerjugend seit ihrer offiziellen Gründung in Weimar 1926 eine Bewegung, nicht nur Teil eines Partei- und Staatsapparates sein wollte. Die ältere deutsche Jugendbewegung nach der Jahrhundertwende war attraktiv gewesen, weil sie für junge Menschen Freiräume und Basisautonomie verwirklichte. Obwohl die HJ-Führer den Wandervogel und die bündischen Gruppen der Weimarer Jahre verachteten, weil sie ihnen als schwächlich erschienen, kopierten sie deren Gemeinschaftsmodell. Viele Alltagsbelange beließ man zu Anfang in der Verantwortung junger Führungskräfte vor Ort. Hier lag ein wesentlicher Grund, warum die Hitlerjugend junge Menschen begeistern und für sich einnehmen konnte. Im Verlauf der 1930er Jahre wurde die relative Autonomie der Basis dann aber sukzessive eingeschränkt, weil Probleme zu Tage traten. Es dämmerte der Reichsjugendführung (RJF), dass ihr Verfügungsanspruch mit einem Selbstführungsprinzip nicht in Einklang zu bringen war.  

Die Hitlerjugend - nicht immer ein straff geführter und organisierter Staatsapparat

Daher wäre es irrig, die Hitlerjugend als einen von der RJF in Berlin straff geführten, totalitär kontrollierten Apparat zu denken. Die nachgeordneten Gebietsführer und Gauführerinnen – junge Männer und Frauen im Alter von Anfang oder Mitte 20 – gaben oft Befehle heraus, die einander stark widersprachen. Die Basis stand außerdem nicht unter der Daueraufsicht höherer Dienststellen. 1933/34 waren junge Leute aus bündischen, konfessionellen oder oppositionellen Gruppen in die Hitlerjugend gelangt. Mancher erklomm untere Führungspositionen, weil sich nicht genug „alte Kämpfer“ fanden, um den enormen Bedarf zu decken. Als die Organisationsstrukturen nach 1939 kriegsbedingt erheblich in Mitleidenschaft gezogen wurden, taten sich neue Freiräume für subkulturelle Strömungen auf. Die wissenschaftliche Literatur kennt fast immer nur den Gegensatz: hier die fanatische Hitlerjugend, dort die widerständige Opposition. Doch spätestens Ende der 1930er Jahre konnte es kein Abweichen, keine Opposition und keinen Widerstand ohne Verbindung zur Hitlerjugend geben. Fast alle politisch Verfolgten besaßen den Hitlerjugend-Ausweis, viele gingen zum Dienst, mancher war zuvor nicht negativ aufgefallen oder sogar mit Leistungsabzeichen bedacht worden. Die Jugendopposition in die Geschichte der Hitlerjugend zurückzuholen, soll mein Buch einerseits leisten – denn dort gehört sie hin. 

Andererseits: Dass die Organisation nicht immer so funktionierte, wie es sich das Führerkorps erhoffte, nutzte nicht nur den Gelangweilten, Desinteressierten, Drückebergern, Abweichlern und Gegnern. Mit Spielräumen konnte erhebliche Radikalisierung einhergehen. Unterführer gingen mitunter weit über das hinaus, was ihre Vorgesetzten als zulässig erachteten: Gewalt gegen Jüngere zur Disziplinierung oder „Abhärtung“ war streng untersagt – und fand dennoch statt; antisemitischer Vandalismus, euphemistisch „Einzelaktionen“ genannt, verbot man zwar offiziell – tolerierte sie aber dennoch; einige besonders vulgäre antisemitische Kampf- und Spottlieder wurden aus den Gesangsbüchern der Hitlerjugend gestrichen, da man um das Ansehen der Organisation fürchtete – gesungen wurden sie trotzdem; und in religiösen Belangen sollte die Hitlerjugend eigentlich neutral sein – dass sie das nicht war, ist bekannt. 

Die Hitlerjugend überfordert zu nennen, heißt nicht, sie zu verharmlosen. Warum wurde aus einer Jugendbewegung ein bürokratischer Apparat, der nicht vor Gewalt gegen andere, nicht einmal vor Gewalt gegen die eigenen Mitglieder zurückschreckte? Man könnte antworten: dies liege in der Logik einer totalitären Diktatur – und das wäre keine falsche Antwort. Mein Buch will zeigen: Die Entwicklung der nationalsozialistischen Massenorganisation kann auch mit Reaktionen auf organisatorische Defizite erklärt werden; und als Resultat von Enttäuschungen, wenn Wirklichkeit mit Ideologie zusammenprallt. Jörg Baberowski schrieb:

„Man muss sich von der Vorstellung freimachen, die Essenz der totalitären Diktaturen sei die Übereinstimmung von Inszenierungen und Praktiken gewesen. Sie waren vielmehr Diktaturen mit totalitären Ansprüchen, die ihre Gewalttätigkeit gerade dadurch entfalteten, dass sie ihre politischen und sozialen Entwürfe nicht verwirklichen konnten.“2 

 

Literatur:

1 Interview mit Arno Klönne zitiert nach: Gehling, Dominik/Gehling, Volker/Hofmann, Jonas/Nickel, Holger/Rüther, Christopher (Hg.): „Das müssen Sie mir alles aufschreiben.“ Paderborner Zeitzeugen berichten 1933–1948, Paderborn 2005, S32.

2 Jörg Baberowski, Nationalsozialismus, Stalinismus und die Totalitarismustheorie. In: Sabrow, Martin/Danvel, Jürgen/Kirsch, Jan-Holger (Hg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2013, S. 52–57.

 

Dr. André Postert studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Dort wurde er 2013 mit einer Arbeit über die jungkonservative Bewegung in der Weimarer Republik promoviert. Seit 2014 ist er als Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden beschäftigt.

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