Das aktuelle Heft der Fachzeitschrift »Zeithistorische Forschungen« (02/2022) bietet neue Perspektiven und methodische Impulse zum Leitthema »Disability History«. (Der englische Begriff hat sich auch im deutschsprachigen Raum etabliert.) Die Texte des Themenheftes zeigen die Bandbreite der zeitgeschichtlichen Zugänge zum Leben mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in unterschiedlichen politischen Systemen. Sie tragen damit zu einer historischen Fundierung der interdisziplinären Disability Studies bei.
Welche physischen oder psychischen Merkmale wurden und werden zu bestimmten Zeiten als »Behinderungen« erfahren oder gedeutet – und von wem? Wird dies selbst wahrgenommen oder von außen zugeschrieben, und welche Ordnungsmuster moderner Gesellschaften zeigen sich darin? Wichtig für die Forschung ist es, »Behinderungen« als kontingent und historisch zu verstehen, als Feld von Aushandlungen kognitiver und körperlicher Fähigkeitsnormen sowie damit verbundener sozialer Ungleichheiten. Die Beiträge des Themenheftes beleuchten das Innovationspotential der Disability History teils anhand empirischer Beispiele, teils auf theoretischer Ebene.
In Fallstudien geht es etwa um den Aktivismus gehörloser Industriearbeiter:innen der 1930er-Jahre in der UdSSR, um Wohnen, Arbeit und Urlaub von Menschen mit Behinderungen in der DDR sowie um Rollstühle als materielle Quellen für eine Zeitgeschichte der Mensch-Ding-Beziehungen und der Interessenartikulation im öffentlichen Raum. Deutlich wird, dass trotz systemspezifischer Unterschiede zwischen »Ost« und »West« auch viele Gemeinsamkeiten bestanden, zum Beispiel im Hinblick auf städtebauliche Barrieren oder geschlechtsspezifische Aufgabenverteilungen der Care-Arbeit. Konkret wird dies gerade anhand einzelner Quellen und Quellengruppen wie den Eingaben in der DDR, die viele alltägliche Hindernisse im Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen aufscheinen lassen, aber auch Strategien verdeutlichen, dies gegenüber Entscheidungsträgern in Staat und Partei kritisch zu artikulieren. Für die Bundesrepublik wiederum ist die ZDF-Fernsehserie »Unser Walter« von 1974 ein aufschlussreiches Dokument, dem ein eigener Beitrag gewidmet ist: Einerseits wies die Serie in neuartiger Form auf die Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 hin, andererseits propagierte sie geschlechterkonservative Leitbilder des Familienlebens.
Die »Zeithistorischen Forschungen« werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint dreimal jährlich gedruckt und zugleich im Open Access.
Gastherausgeber:innen des aktuellen Themenhefts sind Prof. Dr. Sebastian Barsch (Universität zu Köln), PD Dr. Elsbeth Bösl (Universität der Bundeswehr München), Prof. Dr. Gabriele Lingelbach (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) und Dr. Raphael Rössel (FernUniversität in Hagen).
Presseinformation des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) – Marion Schlöttke, Öffentlichkeitsarbeit.