Jüdische Sprachkritik nach dem Holocaust: Neues Themenheft der »Zeithistorischen Forschungen«

Das neue Themenheft der »Zeithistorischen Forschungen« (02/2023) widmet sich der Funktionalisierung der deutschen Sprache für die nationalsozialistische Herrschaft und der Kritik daran. Diese Kritik wurde besonders von jüdischen Autor:innen geäußert; sie war mit konkreten biographischen Erfahrungen der Ausgrenzung verbunden. Sprachkritische Studien, Wörterbücher und Glossare zeigten, wie Sprache zum Bestandteil der NS-Verbrechen werden konnte: durch Manipulationen an und mit ihr, durch Euphemismen und Neologismen.

Die Beiträge des Themenheftes diskutieren unter anderem Positionen von H.G. Adler, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Victor Klemperer und George Steiner. Im Fokus stehen nicht nur einzelne Wörter, sondern auch die Alltags- und Sozialgeschichte des Sprachgebrauchs vor und nach 1945. Das „Wörterverzeichnis“ aus H.G. Adlers frühem Grundlagenwerk über Theresienstadt ist dafür ein gutes Beispiel: Die genaue Beobachtung der Sprache im Ghetto diente dem Historiker und Schriftsteller Adler als Basis seiner Analyse der Lagerwelt. (Ein Ausschnitt aus Adlers Typoskript ist auf dem Cover des Themenheftes zu sehen.)

Für heutige Debatten über Sprachgewalt haben die Analysen der frühen Nachkriegszeit eine unverkennbare Aktualität – auch weit über Deutschland hinaus. Ein vielzitierter und in viele Sprachen übersetzter Klassiker der deutsch-jüdischen Sprachkritik ist Victor Klemperers Buch „LTI. Notizbuch eines Philologen“ (Erstausgabe 1947 beim Aufbau-Verlag). Ein Beitrag des Heftes setzt sich eingehend mit der Entstehungs- und Publikationsgeschichte dieses Werks auseinander. Ein anderer Beitrag schildert die Vorbehalte gegenüber dem Deutschen als Sprache der Täter in Israel. Dort verhalf der Jerusalemer Eichmann-Prozess von 1961 der deutschen Sprache zu stärkerer öffentlicher und medialer Präsenz. Der Sprachgebrauch des Angeklagten war für viele Beobachter:innen eine Provokation. Unter den Richtern, Staatsanwälten und Zeug:innen waren zudem etliche deutsche Muttersprachler:innen, die in bestimmten Situationen vom Hebräischen oder Englischen spontan ins Deutsche wechselten.

Gerade für jüdische Autor:innen war die deutsche Sprache nach 1945 neu und anders zu betrachten. Vor 1933 war es insbesondere die Sprache gewesen, die die Zugehörigkeit jüdischer Intellektueller zu Staat, Land, Kultur, Geschichte und Wissenschaft Deutschlands befördert hatte. Nach der NS-Herrschaft stellte sich nun die Frage, wie mit dem Deutschen als eigener, aber belasteter Muttersprache umzugehen sei. Die Beiträge zeigen, welche unterschiedlichen Antworten Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und andere auf diese Spannung fanden. Die Reflexion über die deutsche Sprache sowie über Mehrsprachigkeit und Übersetzbarkeit wurde zu einem zentralen Thema ihres Denkens und Schreibens.

Die »Zeithistorischen Forschungen« werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam von Frank Bösch und Martin Sabrow herausgegeben. Die Zeitschrift erscheint gedruckt und zugleich im Open AccessGastherausgeber:innen des aktuellen Themenhefts sind Nicolas Berg, Elisabeth Gallas (beide Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, Leipzig) und Aurélia Kalisky (Centre Marc Bloch, Berlin).

 

Presseinformation des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) – Marion Schlöttke, Öffentlichkeitsarbeit.

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Zeithistorische Forschungen 2023 Jg. 20, Heft 2
  • Frank Bösch  (Hg.),
  • Martin Sabrow  (Hg.),
  • Nicolas Berg  (Hg.),
  • Elisabeth Gallas  (Hg.)
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