Dr. André Postert entwirft in seinem Buch eine neue Perspektive auf die Hitlerjugend. Auf der Basis von internen Dokumenten wie Befehlsblättern, Archivunterlagen und Schilderungen von Zeitzeugen tritt ein anderes Bild der Hitlerjugend in Erscheinung. Im folgenden Gespräch geht es um die Unterschiede zwischen Propaganda und Wirklichkeit, um die Entwicklung der Organisation und die Probleme der Hitlerjugend im Alltag und mit »abweichendem Verhalten«.
Die Bilder der NS-Propaganda prägen größtenteils auch das heutige Bild der Hitlerjugend: Man hat beispielhaft den Reichsparteitag 1936 in Nürnberg mit den Sternenmärschen, den Fahnen aus dem ganzen Land und eine uniformierte Jugend im Gleichschritt vor Augen. Doch inwiefern bildet diese Vorstellung die Wirklichkeit der Hitlerjugend als Organisation ab?
Dr. André Postert (AP): Sie sind ganz sicher ein Teil der Wahrheit, aber nur eine halbe Wahrheit. Ich nenne an dieser Stelle als Beispiel den Brief eines bayerische HJ-Unterführers namens Viktor Brandl. Der schrieb im November 1938 einen Beschwerdebrief an Ulrich Graf, einen „alten Kämpfer“ und Weggefährten Hitlers. Man täusche sich gewaltig, heißt es in diesem Brief, wenn man im alljährlichen Aufmarsch beim Reichsparteitag ein Abbild der gesamten Jugend sehen wolle. Er wisse aus eigener Erfahrung, dass die Wirklichkeit vor Ort und im Alltag eine ganz andere sei. Nur rund zwanzig Prozent der Jungen und Mädchen würden nämlich überhaupt noch zum Dienst antreten. Bei der Mehrheit handele es sich um Karteileichen. Brandl forderte, dass man nun endlich Zwangsinstrumente brauche, um die jungen Leute zur Beteiligung zu zwingen. Millionen waren in die Hitlerjugend eingetreten, weil sie Nachteile befürchten mussten; oder etwa die Mitgliedschaft in einem Sportverein an die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend gekoppelt worden war. Ab Mitte der 1930er Jahre bestand die Massenorganisation deshalb tatsächlich zu einem Gutteil aus passiven, vergleichsweise wenig engagierten Mitgliedern. Der junge Unterführer Brandl war mit seiner Beschwerde übrigens nicht allein. Von verschiedener Seite, etwa auch aus dem Sicherheitsapparat, hieß es immer wieder, dass viele junge Leute kein Interesse hätten und sich nicht blicken ließen. Ab 1939 wurde mit der „Jugenddienstpflicht“ dann ein Instrument geschaffen, um Kinder und Jugendliche zur Beteiligung zu zwingen – notfalls unter dem Einsatz von Polizei und der Androhung von Arreststrafen. Ich versuche in meinem Buch die Entwicklung der Hitlerjugend zur totalitären Organisation aus ihren Defiziten und Überforderungen heraus zu erklären.
Die Analyse der Hitlerjugend basiert in Ihrem Buch auf der Auswertung interner Quellen und Zeugnisse zur Dokumentation, zum Alltagsgeschehen in der Organisation und zur Situation an der Basis. Was für ein Bild entsteht ausgehend von diesen Dokumenten und inwieweit unterscheiden sich die Befunde dieser Quellen von den Zuschreibungen durch externe Zeitzeugenberichte oder anderweitige Quellen?
AP: Berichte der Zeitzeugen sind nicht alle gleich. Sie unterscheiden sich oft sogar ganz erheblich. Dennoch hat man lange Zeit vor allem jene Erinnerungen besonders beachtet, die von Verblendung, „Verführung“ oder von Begeisterung für die Hitlerjugend erzählen. Wer über die Hitlerjugend sagte, sie sei eigentlich gar nicht so präsent gewesen, man habe sich vor ihr drücken können, man sei mit Ideologie gar nicht viel in Berührung gekommen, dem traute man nicht so recht über den Weg. Denn es birgt immer die Gefahr, etwas zu verharmlosen, das man nicht verharmlosen darf. In meinem Buch versuche ich aber zu erklären, warum die Hitlerjugend von Ort zu Ort durchaus verschieden funktionierte und warum sie sehr unterschiedliche Geschichten beinhalten konnte: Die der verblendeten jungen Fanatiker oder Gewalttäter ebenso wie die der Desinteressierten oder gar Widerständigen. Ich erinnere nur daran: Hans und Sophie Scholl sind zu Beginn engagierte Mitglieder der Jugendorganisation gewesen, bevor sie zu Widerständigen wurden. Mit Befehlsblättern und internen Papieren der Hitlerjugend versuche ich zu zeigen, mit welchen Herausforderungen die Reichsjugendführung zu tun hatte und warum die Jugendorganisation an der Basis oft anders funktionierte als es die Vorgaben von oben vorsahen. Da geht es neben den Desinteressierte und Karteileichen um Vandalismus und Gewalt, körperliche und sexuelle Übergriffe, mangelnde sogenannte „weltanschauliche Disziplin“ oder auch um überschießenden Fanatismus gegen staatliche Gegner oder jüdische Bürgerinnen und Bürger. Die Hitlerjugend, die ich beschreibe, ist weniger eine kontrollierte, straff geführte Organisation gewesen, als eine, deren junge Mitglieder überraschend autonom agierten und die einen unterschiedlichen Grad an Dynamik entfalten konnte.
Der Untertitel Ihres Buches offeriert die »Geschichte einer überforderten Massenorganisation«, diese Formulierung allein ist bereits ein heftiger Gegensatz zu dem Bild des straff-geführten Teils des Staatsapparates. Was genau verbirgt sich hinter dieser Zuschreibung?
AP: Die Hitlerjugend war 1933 eine andere Organisation als 1939 oder gar 1943. Sie war zu Anfang revolutionär, agil, chaotisch gewesen und bot auf diese Weise zugleich viele Freiräume für junge Menschen. Das Leitprinzip der Hitlerjugend lautete: „Jugend wird von Jugend geführt“. Dieses Selbstführungs- oder Autonomieprinzip wurde im Verlauf der 1930er Jahre aber immer weiter eingeschränkt. Auch der Katalog an Verhaltensregeln ist mit den Jahren immer größer geworden, die Autonomie junger Menschen und der Einheiten, in denen sie Dienst taten, schränkte man Schritt für Schritt ein. Bis in die Kriegsjahre hinein hatte sich die Hitlerjugend so zu einem totalitären und bürokratischen Apparat gewandelt, der auch vor Gewalt gegen die eigenen Mitglieder nicht zurückschreckte. Man kann nun sagen, dass eine solche Entwicklung in der Logik eines totalitären Staates liege. Nicht falsch. Aber ich erkläre diese Entwicklung eher aus den Defiziten und aus dem Umstand, dass Ideale mit der Wirklichkeit nicht zusammenpassten. Nur ein Beispiel: Bis zuletzt hat die Hitlerjugend daran festgehalten, dass sie eine Organisation auf Basis von „Freiwilligkeit“ sein wollte. Nur: Freiwilligkeit bedeutete in der Praxis dann eben auch, dass viele junge Menschen nicht zum Dienst erschienen. Die schon erwähnte „Jugenddienstpflicht“ 1939 machte der Freiwilligkeit dann endgültig ein Ende. Ähnlich verhielt es sich mit dem Selbstführungsprinzip, das zahlreiche Probleme aufwarf, weil es mit einheitlicher Erziehung und Linientreue nicht zusammenpasste. Weil die Jugendorganisation immer wieder auf solche und andere Defizite reagieren musste und ihre inneren Widersprüche im Grunde bis zum Schluss nicht auflösen konnte, nenne ich sie eine „überforderte“ Massenorganisation.
Daran anschließend und vor dem Hintergrund Ihrer bisherigen Ausführungen stellt sich die Frage, wie sich die Hitlerjugend im Laufe ihres Bestehens gewandelt hat. Aus diesem Grund möchte ich diese Frage dreiteilen: Wie gestaltete sich die Verfassung der Hitlerjugend…
…bei ihrer Gründung 1926 und bis zur Machtergreifung?
AP: Bis etwa Ende 1933 kann man die Hitlerjugend – wie eben bereits angedeutet – als revolutionäre, dynamische, aktivistische und durchaus chaotische Organisation kennzeichnen. Es gibt zwar schon eine zentrale Jugendführung, zunächst mit Sitz im sächsischen Plauen, dann später in München und Berlin, aber die Hitlerjugend ist noch stark abhängig von der SA, gewissermaßen ihre Nachwuchstruppe, und nicht zentral gesteuert oder gelenkt. HJ-Einheiten agieren oft in Eigenverantwortung. Auch in der älteren wissenschaftlichen Literatur nennt man dies die „Bewegungsphase“. Ab 1932/33 setzt ein gewaltiges Wachstum zunächst durch freiwillige, dann vermehrt erzwungene Eintritte ein. Mit diesem gewaltigen Wachstum halten weder Personaldecke noch organisatorische Strukturen schritt. Die Reichsjugendführung versucht nun, dieses Wachstum in geordnete Bahnen zu lenken und Problemen, die damit einhergehen, gegenzusteuern. Es kommt zum Aufbau der riesigen Hitlerjugend-Bürokratie.
…im Jahre 1936 rund um den bereits thematisierten Reichsparteitag in Nürnberg?
AP: Diese „Reorganisationsphase“ gipfelt im Hitlerjugend-Gesetz von 1936. Dort wird die staatliche Monopolstellung der Hitlerjugend und ihr Aufgabenbereich neben Schule und Elternhaus festgeschrieben. Man kann diese Phase aber auch als eine Erstarrungsphase beschreiben: viel revolutionäre Dynamik geht verloren, die Zahlen stagnieren, es wird immer größerer Druck und Aufwand nötig, um die verbliebenen „Außenseiter“ zum Eintritt zu bewegen. Es treten sogar einige wieder aus. Es kam ja auch schon das Problem mit den „Karteileichen“ zur Sprache. Die gewaltige Propaganda-Kulisse verdeckt in dieser Phase viele reale und scheinbare Defizite, mit denen die Führung an der Basis zu kämpfen hat. Schritt für Schritt werden Ideale und Grundprinzipien der „Bewegungszeit“ über Bord geworfen.
…in den Kriegsjahren nach 1939?
AP: Spätestens mit der Jugenddienstpflicht 1939 tritt die Hitlerjugend in ihre totalitäre Phase ein: Abweichler und Drückeberger werden noch repressiver verfolgt als zuvor, in den Kriegsjahren dann zunehmend mit Gewalt. Diese Phase gipfelt in der Einrichtung von Jugendkonzentrationslagern, aber auch von halb-staatlichen Einrichtungen zur Umerziehung, bei denen die Reichsjugendführung mitmischt. Ich will dennoch betonen: Totalitäre Phase soll nicht heißen, dass die Hitlerjugend alles im Griff gehabt hätte. Es gibt weiter zahlreiche Lücken, durch die junge Menschen regelmäßig schlüpfen. Die Personaldecke wird mit dem zunehmenden Militäreinsatz junger Männer wieder ausgedünnt, die Überwachung wird oft sogar schwerer zu leisten als zuvor. Nicht zufällig können insbesondere im großstädtischen Raum während des Zweiten Weltkriegs neue jugendliche Subkulturen entstehen.
Zu guter Letzt und hinsichtlich der geschilderten Chronologie der Hitlerjugend zwischen der Funktion als Nachwuchsgruppe für die SA und umfassender Dienstpflicht bleibt die Frage nach einer jugendlichen Opposition zur Hitlerjugend. Wie verhielt es sich mit Oppositionsbewegungen oder war die Dienstpflicht derartig umfassend, dass damit auch keinerlei Opposition mehr bestehen konnte?
AP: Von Opposition im Sinne einer dezidierten Ablehnung aus politischer Überzeugung sollte man nicht leichtfertig sprechen, beim Widerstandsbegriff wird es noch schwieriger. Hans und Sophie Scholl waren eine Ausnahme, nicht die Regel. Was es aber trotz oder gerade wegen der Jugenddienstpflicht nach 1939 durchaus zahlreich gegeben hat, lässt sich unter „abweichendes Verhalten“ fassen. Ich nenne ein kleines Beispiel aus dem damaligen Alltag junger Menschen: Mit der „Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend“ vom Frühjahr 1940 wurde geregelt, dass sich Jugendliche nicht mehr nach Einbruch der Dunkelheit im Freien aufhalten oder zu bestimmten Zeiten keine Gaststätten und Lichtspielhäuser mehr besuchen durften. Es kam in der Folge massenhaft zu Ausweisfälschungen oder auch zum Tausch von Ausweisen untereinander, weil im Krieg immer weniger Ausweise Lichtbilder enthielten. Oft genügte es, mit einem Strich das Geburtsdatum zu ändern. Das machten junge Menschen nicht, weil sie oppositionell gewesen wären, sondern aus Eigensinn und Eigeninteresse. Es gibt etliche ähnliche Beispiele für Lücken, die genutzt werden konnten, um diese oder jene Regelung zu umgehen oder vom Radar der Jugendorganisation sogar komplett zu verschwinden. Dennoch: je stärker der staatliche Verfolgungsdruck wurde, desto wahrscheinlicher wurde es auch, dass solch abweichendes Verhalten zur „echten“ Opposition oder gar zu aktivem Widerstand hinüberführte.
Dr. André Postert studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Dort wurde er 2013 mit einer Arbeit über die jungkonservative Bewegung in der Weimarer Republik promoviert. Seit 2014 ist er als Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden beschäftigt.
© Vandenhoeck & Ruprecht, ein Imprint der BRILL Deutschland GmbH. Das Interview wurde von Stefan Lemke schriftlich geführt.