Am 5. April 2025 ist Peter Stuhlmacher im Alter von 93 Jahren verstorben. Er bekleidete für fast drei Jahrzehnte einen Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Tübingen. Schon zuvor zählte er zu den Mitbegründern des Evangelisch-Katholischen Kommentars. Bereits in den ersten Arbeitstagungen ab 1968, die in den „Vorarbeiten“ ihren literarischen Niederschlag fanden, hat er für die Profilbildung des Kommentars eine maßgebliche Rolle gespielt. 1971/72 stieß er mit seinem programmatischen Vortrag „Zur Methoden- und Sachproblematik einer interkonfessionellen Auslegung des Neuen Testaments – Gerhard Ebeling zum 60. Geburtstag“ eine lebhafte Debatte an. Sie drehte sich um seine These, die „gegenwärtig größte Gefahr sei eine auf evangelischer wie katholischer Seite verbreitete Neigung, unter Ausklammerung der hermeneutischen Probleme rein historisch-exegetisch zu arbeiten“. Ein halbes Jahrhundert später mögen wir konstatieren, dass diese Mahnung immer noch aktuell ist. Den Schlüssel zur Überwindung einer „sich von der Tradition emanzipierenden theologischen Exegese“ erkannte er in der Wirkungsgeschichte. Diese bilde einen konstitutiven Teil der Auslegungsaufgabe.
Stuhlmachers Kommentierung des Philemonbriefs aus dem Jahr 1974 ist deshalb nicht nur der Anfang einer stattlichen Reihe von EKK-Bänden, sondern auch ein paradigmatischer Testlauf: „Ein Experiment ist meine Auslegung […] insofern, als ich versuche, eine auslegungs- und wirkungsgeschichtlich reflektierte theologische Exegese vorzulegen.“ Gerade dieser sehr kurze Brief bietet für „diese Art der Auslegung ideale Bedingungen“. Das rezeptionsgeschichtliche Interesse hat Stuhlmacher in den folgenden Jahrzehnten zu seiner „Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten“ geführt. Im Gespräch mit Adolf Schlatter und Karl Barth spürt Stuhlmacher dem „Treueverhältnis zu den biblischen Autoren“ nach, das in der Forderung gipfelt, die Texte im Einklang mit dem hermeneutischen Anspruch, den diese selbst erheben, auszulegen.
Stuhlmacher hat in den 1980er und 1990er Jahren seltener oder gar nicht mehr an den Arbeitssitzungen des EKK teilgenommen. Zu einer Entfremdung oder gar Distanzierung vom EKK-Kreis scheint es aber nicht gekommen zu sein. Eher hat sich sein Interesse in eine andere Richtung verlagert.
Peter Stuhlmacher ist vor allem als markanter Impulsgeber in der Herausbildung einer „Biblischen Theologie“ hervorgetreten. Zusammen mit seinem alttestamentlichen Tübinger Kollegen Hartmut Gese entwickelte er das Programm, die neutestamentlichen Aussagen und Zeugnisse konsequent von den lebendigen Traditionen des Alten Testaments und seinen frühjüdischen Weiterbildungen her zu interpretieren. Das Neue Testament soll dabei so verstanden werden, wie es sich selber auslegt. Auf diesem Weg hat Stuhlmacher in seiner universitären Lehre eine ganze Generation von Theologen und Theologinnen geprägt. Mit seiner geistlichen Schriftauslegung inspirierte er über die Akademie hinaus viele Pfarrerinnen und Pfarrer.
Eigentlich wollte er nach seiner Studienzeit in Tübingen und Göttingen eine praktisch-theologische Dissertation schreiben, um dann Pfarrer der Evangelischen Kirche in Württemberg zu werden. Doch er folgte als Assistent und Doktorand seinem Göttinger Lehrer Ernst Käsemann nach Tübingen. Seine Qualifikationsarbeiten galten der paulinischen Theologie: „Gerechtigkeit Gottes bei Paulus“ (Göttingen 1965); „Das paulinische Evangelium“ (Göttingen 1968). Nach einer ersten Professur in Erlangen kehrte er 1972, zusammen mit Martin Hengel, nach Tübingen zurück. Hier konzentrierte er sich auf die Biblische Theologie, auf die neutestamentliche Hermeneutik und auf die Jesusüberlieferung. Seine Vorlesungen mündeten in die vielbeachteten Lehrbücher zur „Biblischen Theologie des Neuen Testaments“ (in zwei Bänden, Göttingen 1992 und 1999) und „Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik“ (Göttingen 1979). Dazu kommen ein Römerbriefkommentar im Neuen Testament Deutsch (Göttingen 1989) und mehrere Aufsatzbände. Er hat sich darüber hinaus in vielfachen kirchlichen Aktivitäten engagiert. Seine legendäre Tübinger Abschiedsvorlesung 2001 handelte von seinen „Erfahrungen mit der Biblischen Theologie“. Nach seiner Emeritierung hat er sich während vieler Jahre der Pflege seiner schwerkranken Frau hingegeben. Ihr Tod im Jahr 2012 war für ihn ein schmerzvoller Einschnitt.
Für Theologiestudierende der 1970er Jahre war es überaus faszinierend, mitzuerleben, wie sich über Generationen hinweg Meisterschüler von ihren Lehrern drastisch distanzierten und ganz andere, neue Wege suchten. Man fühlte sich geradezu an die Abfolge der Göttergeschlechter in der altgriechischen Theogonie erinnert. So rebellierte Ernst Käsemann im Zeichen der kosmosweiten Mächte gegen Rudolf Bultmann und seine am Individuum orientierte existentiale Hermeneutik. Peter Stuhlmacher selber würdigte zwar zeitlebens die fundamentale Bedeutung und kosmische Dimension der paulinischen Rechtfertigungslehre, die ihm sein Lehrer nahegebracht hatte. Er brach aber mit diesem infolge seiner Distanzierung von der Bultmannschule, seiner resoluten „Kritik an der Kritik“ und seiner Nähe zur pietistischen Frömmigkeit.
Die Mitarbeitenden und die Herausgeberschaft des Evangelisch-Katholischen Kommentars bewahren die Erinnerung an einen der großen Gründerväter der Auslegungsreihe und an den ersten EKK-Autor vor rund einem halben Jahrhundert.
Die Herausgeberschaft des Evangelisch-Katholischen Kommentars, 30. April 2025