Zum Tod von Michael Mitterauer

Wir trauern um Michael Mitterauer, der am 18. August 2022 im Alter von 85 Jahren verstorben ist. Allen Angehörigen und Trauernden möchten wir unsere Anteilnahme und unser herzliches Beileid aussprechen.

Mitterauer wurde am 12. Juni 1937 in Wien geboren. Sein Geschichtsstudium schloss er 1960 mit der Promotion sub auspiciis praesidentis ab. Nach Forschungsaufenthalten etwa in München habilitierte er sich 1968 an der Uni Wien, 1971 wurde er ebendort im Zusammenhang mit dem Lehrplan für das erweiterte Schulfach "Geschichte und Sozialkunde" auf die neu geschaffene außerordentliche Professur für Sozialgeschichte berufen. Von 1973 an war er ordentlicher Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 2003 emeritierte er.Seine frühen Forschungen widmeten sich noch der Geschichte von Adelshäusern und Potentaten. So lautet der Titel seiner ersten Publikation "Slawischer und bayerischer Adel am Ausgang der Karolingerzeit" (1960). Später wandte sich sein Interesse immer mehr den "einfachen Leuten" zu, deren spezifischen Problemen und Krankheiten, ein damals beinahe revolutionäres Geschichtsbild.
"Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit, mit der die Menschen sich die Welt aneignen", interessiere ihn, sagte er einmal. Dementsprechend standen Familienbeziehungen immer wieder im Mittelpunkt seiner Arbeiten, andere Forschungen drehten sich etwa um Beziehungen Bauern-Gesinde oder um Arbeiter. Mit Forschungsarbeiten wie "Vom Patriarchat zur Partnerschaft" (1977), "Ledige Mütter" (1983), "Sozialgeschichte der Jugend" (1986) oder "Geschichte der Familie" (2003) wurde er auch über sein Fach hinaus international bekannt.
 
Der Historiker dehnte seine Forschungen immer mehr in die Gegenwart aus, wenn möglich setzte er dabei "Oral History" ein, also die Befragung von Zeitzeugen. Darüber hinaus ortete er auch persönliche Aufzeichnungen von Mitgliedern städtischer und ländlicher Bevölkerungsgruppen als Geschichtsquelle. Bereits Anfang der 1980er-Jahre gründete Mitterauer die "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen", die seitdem Lebenserinnerungen und andere Selbstzeugnisse sammelt. 1983 begründete er die bis heute bestehende Buchreihe "... damit es nicht verlorengeht", in der autobiografische Texte und persönliche Erinnerungen von Menschen publiziert werden, deren Leben ansonsten weniger im Fokus der Geschichtswissenschaften standen. Seither werden anhand von autobiographischen Erinnerungstexten Einblicke in vergangene wie gegenwärtige Lebens-, Arbeits- und Beziehungsverhältnisse gewährt und das vielfältige Alltagswissen älterer Menschen dokumentiert.
 
Der Ansatz ist, durch persönliche Lebenserzählungen historische Entwicklungen und lebensweltliche Unterschiede – zwischen Generationen, sozialen Gruppen und Schichten, Frauen und Männern usw. – zu veranschaulichen und so wechselseitiges soziales Verstehen wie auch interkulturelle Verständigung zu fördern. Für eine Sicht der Geschichte, die nicht die bedeutenden politischen Ereignisse in den Vordergrund stellt, sondern die alltägliche Lebensbewältigung der Menschen zum Gegenstand der Forschung macht, sind solche Quellen unentbehrlich. Mit diesem Forschungsansatz gilt Mitterauer als Begründer der "historischen Anthropologie".Stark engagiert hat sich der Historiker beim Aufbau seines Fachs in Mittel- und Osteuropa. Engen Kontakt hielt er auch zu den Balkanländern, einem Gebiet, das er auch schwerpunktmäßig in seinen Forschungen beleuchtete. Mit seinen Analysen über das Geschichtswissen des Briefbombenattentäters Franz Fuchs wurde er auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Der Historiker war Autor oder Co-Autor von mehr als 20 Büchern zur europäischen Sozial-, Familien-, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte, deren Großteil in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.
 
Zuletzt widmete er sich 2014 der Geschichte des Jakobsweges ("St. Jakob und der Sternenweg: Mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt"). Für sein Buch "Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs" (2003) und für sein Lebenswerk wurde er 2004 mit dem Deutschen Historikerpreis ausgezeichnet. 2007 erhielt er mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst die höchste Auszeichnung, die die Republik für wissenschaftliche Leistungen vergibt, verbunden damit war die Aufnahme in die Kurie für Wissenschaft. Seit 2002 wird der anlässlich des 65. Geburtstags des Historikers gestiftete Michael-Mitterauer-Preis für Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte an junge Historiker:innen verliehen.
 
 
Tags: Nachruf
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