Die Herausgeber*innen von »Neue Autorität – Das Handbuch« Bruno Körner, Martin Lemme, Stefan Ofner, Tobias von der Recke, Claudia Seefeldt und Herwig Thelen aus dem Netzwerk »Neue Autorität« (NeNA) im Interview.
Seit der Entstehung der »Neuen Autorität« in den 1990er-Jahren hat sie zunehmend in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern Anwendung gefunden. »Neue Autorität – Das Handbuch« nimmt dieses Konzept nun erstmals in einen gesamtgesellschaftlichen Fokus. Damit zeigt das Handbuch den aktuellen Stand von Diskussion und Praxisfeldern auf und regt dazu an, über weitere Entwicklungen und mögliche Bedeutsamkeiten nachzudenken.
Die »Neue Autorität« ist bekannt als auf Erziehung ausgerichtetes Konzept für hilflose Eltern, welches sich von der familiären Ausrichtung auf Schule, Jugendhilfe und andere Einrichtungen ausgedehnt hat. In ihr offenbart sich nun auch ein Potential für die Zusammenarbeit von verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen. Doch worin besteht das Potential in der Nutzung dieser Art von Denken für Unternehmen und Gesellschaft?
Hgg: Das Kernpotential der »Neuen Autorität« liegt in ihren theoretischen und praktischen Beiträgen für ein friedliches Miteinander in allen Systemen, in denen es Menschen miteinander zu tun haben. Im Zentrum des Konzeptes stehen dabei einerseits selbstkontrollierte einseitige Schritte, andererseits die aufrichtige Bezogenheit auf das Gegenüber mit dem Fokus einer gelingenden Beziehung. Gerade wenn es schwierig wird, bedeutet das den Ausstieg aus dem Machtkampf ohne Beziehungsabbruch. Es ist so für beide Seiten möglich, die Selbstachtung und die Würde zu behalten.
Im Zentrum des Konzeptes steht die Präsenz der handelnden Personen. Dies gilt in Erziehungskontexten für Eltern und Pädagog*innen, in Führungszusammenhängen für Leitungskräfte und in gesellschaftlichen Zusammenhängen für die dort Verantwortlichen (Politiker, gesellschaftliche Bewegungen usw.). Das Konzept beschreibt eine grundsätzliche Haltung für diese verschiedenen Kontexte, die auf drei Grundprinzipien aufbaut: (1) Alle Handlungen laden zu weiterer Kooperation und Beziehungsgestaltung ein, deeskalieren somit und fördern Strategien gemeinsamen Handelns. Sie fokussieren demnach eher Präsenz und Nähe als Distanz. Dies schließt durchsetzungs- und machtorientierte hierarchische Interventionen aus. (2) Gleichzeitig benötigt eine Autorität eine klare Position, für die die handelnden Personen einstehen. Das „neue“, vielleicht besser das „andere“ daran ist, dass es sich um eine Position handelt, aus der heraus im Sinne der Orientierung und der anstehenden Aufgabe gehandelt wird, also projektbezogen, nicht selbstbezogen. Dies gilt vor allem für Führungshandeln im Kontext von Organisationen. Im gesellschaftlichen Handeln geht es wohl eher um das Einstehen für gemeinschaftliche, würdevolle und verbindende Werte. Das 3. Prinzip ist die Transparenz und darüber die Wahrung der Würde aller Beteiligten. Alle Schritte des eigenen Vorgehens werden bekanntgemacht, damit sind sie überprüfbar. Und es wird deutlich, in welcher Absicht sie durchgeführt werden. Der Fokus eines Systems kann dadurch auf ein Ziel, auf die Gestaltung gemeinsamer Werte und Umstände gerichtet werden.
Wo genau sind die Stärken des Konzeptes »Neue Autorität« außerhalb Ihres ursprünglichen konzeptionellen Rahmens zu verorten?
Hgg: Die wesentliche Idee der »Neuen Autorität« ist der Anspruch, den Ausgleich von Interessen der zu einem System gehörenden Menschen (Familie, Schule, Unternehmen oder Gemeinde) so zu gestalten, dass ein respektvolles Miteinander besteht. Besonders schwierig wird dies immer wieder bei Konflikten oder bei chronisch asymmetrischer, nicht anschlussfähiger Kommunikation. Die »Neue Autorität« bietet hier eine Haltung an, die es ermöglicht, durch solche Krisen hindurchzukommen und Dominanz oder Unterwerfung, aber auch Beziehungsabbrüche zu vermeiden. Aus unserer Sicht geht es also stets um die Stärkung von Beziehungen und die Frage, wen oder was es dafür braucht. Entschiedenheit, Präsenz, Unterstützung, Beharrlichkeit, Selbstkontrolle, Transparenz, Deeskalation und Beziehung sind die wesentlichen Stärken des systemischen Konzeptes.
Im Vordergrund steht die Stärkung der Präsenz der handelnden Personen und nicht in erster Linie die Veränderung anderer Beteiligter. Damit werden die eigene Wirksamkeit und der eigene Erfolg unabhängig von den Reaktionen anderer Personen oder Umständen. Die mögliche erste Enttäuschung, keine Kontrolle über andere Umstände und Personen zu haben, weicht letztlich dem Erleben, dass die Verantwortung für das eigene Handeln Handlungsoptionen erweitert. Es wird wieder möglich, aus der eigenen Haltung heraus aktiv und wirksam sein zu können.
Daran anknüpfend: Wie kann die »Neue Autorität« Einfluss finden in…
…therapeutische Kontexte?
Hgg: Therapie heißt seelische Reifung, also auch Verlassen der gewohnten Pfade. Das ist riskant und braucht eine Begleitperson, die neben hohem Einfühlungsvermögen auch Führung und Sicherheit gibt. In der »Neuen Autorität« geht es um eben dieses einfühlsame Führen. Viele psychische Akzentuierungen haben die Kraft, eine Beziehung einseitig bis chaotisch zu steuern, auch die therapeutische. Diesem Schutzmuster widersetzen sich die therapeutischen Anwendungen der »Neuen Autorität« und schaffen sichere und wohl begleitete Erfahrungen des Über-Sich-Hinaus-Wachsens.
In diesem Sinne hat sich die Haltung und Prinzipien der »Neuen Autorität« als ein sicherer und auch effektiver Rahmen für die Gestaltung von Psychotherapie erwiesen. Die Präsenz der Psychotherapeut*innen wird dabei ebenso wichtig, wie die Handlungsfähigkeit, die Selbstüberzeugung, die Selbstführung, die Absicht und die soziale Einbindung der Klient*innen. In dieser Haltung verzichten Psychotherapeut*innen auf die Macht des eigenen Handelns und lassen sich auf einen partizipativen Prozess mit ihren Klient*innen ein. Das bedeutet allerdings auch, dass sie einen klaren Therapieleitfaden benötigen, diesen transparent machen, ohne unbedingt daran festhalten zu wollen. Außerdem reflektieren sie mit ihren Klient*innen die eigene Wahrnehmung und bieten diese als Möglichkeit der Reflexion an.
…führungsbezogene Kontexte?
Hgg: Führen mit »Neuer Autorität« beginnt mit der Frage, wann Führung überhaupt notwendig ist, und wann man sich stattdessen auf die Selbstführung der Personen verlassen kann. Das Konzept der Wachsamen Sorge unterscheidet hier klar und ökonomisch, wieviel Führung überhaupt notwendig, beziehungsweise verträglich ist. Die frühkindliche Bindung gibt uns ein fabelhaftes Vorbild. Während Unverbindlichkeit zu chaotischen Folgen führt, kann ein Übermaß an Monitoring die wichtigsten inneren Antriebe und Entscheidungskräfte vernichten.
Führung bzw. in Führung gehen berührt die je eigene Affektebene, insofern beginnen wir bei Führungskräften in unserer Arbeit damit, ihre Präsenz und die eigenen Affektlagen besser kennen zu lernen, um die ihrer Mitarbeiter besser erfassen zu können. Dies ist sozusagen Selbstführung als Schule des eigenen Führens.
Darüber ergibt sich wohl auch die Frage, an welcher Stelle eines Entwicklungsprozesses sich eine Organisation befindet. Eine Institution, die beispielsweise eine lange Tradition sehr hierarchischer Organisation und Führung erlebt, wird sich wohl eher schwer tun mit einer sofortigen großen Freiheit und umfangreicher Partizipation der Mitarbeitenden. Dann erscheint zunächst mehr Anleitung notwendig. Umfangreiche Kooperations- und Partizipationsangebote bei gleichzeitiger klarer Struktur und Rahmung sowie Transparenz über die Abläufe halten wir gleichwohl für die wesentlichen Elemente von Führung. In der Arbeit mit Einrichtungen oder Unternehmen ist die Transparenz über das eigene Vorgehen und die eigenen Absichten im Sinne des gemeinsamen Projektziels besonders wichtig und hilfreich.
…gesamtgesellschaftliche Kontexte?
Hgg: Uns erscheint, dass unsere Gesellschaft eine gewisse Scheu vor Komplexität hat, weshalb möglicherweise der (populistische) Ruf nach schwarz oder weiß, nach einfachen, schnellen Antworten laut wird. Gerade konfliktbeladene Themen machen dies sichtbar. Neben der Kraft des Gewaltlosen Widerstands ist die »Neue Autorität« von einem starken und versöhnlichen Optimismus getragen. Wir müssen nicht immer lösen, wir können auch ertragen, durchhalten, geduldig sein. Frieden entsteht letztlich nicht vorrangig durch die große Geste, sondern dann, wenn sich jede*r ein bisschen besser mit seinem vielleicht „schrulligen“ Nachbarn versteht.
Das wäre die Haltung, mit der wir dann schnell bei der Frage angelangen, ob wir uns mit dieser Haltung nicht öfter und lauter in gesellschaftspolitischen Diskursen zu Wort melden müssten. Angesichts so großer Themen wie Klimaveränderung, wachsender Armut, zunehmender Gewalt in politischen Auseinandersetzungen oder steigender Straftaten mit diskriminierendem und rassistischem Hintergrund scheint dies zumindest uns Herausgeber*innen geboten. Die politischen Parteien haben in den letzten Jahren stark an Autorität verloren. Auch die Kirchen haben einen erheblichen Verlust ihrer ursprünglichen Autorität zu beklagen,
Vor diesem Hintergrund kann dem Konzept »Neue Autorität« eine wichtige gesellschaftspolitische Bedeutung zukommen. Im Sinne eines friedlichen Miteinanders ist sie der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Durch ihre Angebote an Kooperation verschiedener gesellschaftlicher Gruppen kann sie die Entwicklung gemeinsamer Zukunftsvisionen und klare Orientierung an grundlegenden Werten einen wichtigen Beitrag leisten. Dabei müsste im Sinne dieses Konzeptes eine wirksame, zivilcouragierte, hoffnungsfrohe und konstruktive Gegenbewegung zum ausgrenzenden Populismus entstehen. Besonders herausfordernd ist dabei, wie sich Beziehung zu vollkommen andersdenkenden Menschen gestalten und aufrechterhalten lässt. Dieser Aufgabe haben sich die Herausgebenden und andere am internationalen Netzwerk Beteiligte in einer gemeinsamen Charta verpflichtet.
Und wie kann die »Neue Autorität« als gewaltlose Führungshaltung und besonders als Selbstführungshaltung funktionalisiert werden?
Hgg: Zunächst erscheint es uns wichtig, dass wir unsere Eigenheiten wahrnehmen. Es reicht oft schon, wenn uns im rechten Moment bewusstwird, dass wir beispielsweise reizbarer, ängstlicher, lustaffiner oder fürsorglicher als andere sind. Dasselbe macht möglicherweise auch unser Gegenüber, je nachdem, welche kritischen Erfahrungen gemacht wurden. Wenn wir unsere eigenen Schutzpanzer gut kennen, erkennen wir meist auch die unseres Gegenübers. So ist eine respektvolle Begegnung eher möglich und wir machen neue und friedvollere Erfahrungen als bisher. Wir fokussieren uns damit auf die eigene Wahrnehmung und die Möglichkeit, das eigene Verhalten so zu gestalten, dass es in beziehungsorientierter Absicht unserem Gegenüber gespiegelt werden kann. Das ist im Prinzip das Skriptum, das uns Haim Omer in der Haltung beschrieben hat, die sich u.a. im Vorgehen des Sit-Ins zeigt.
Letztlich macht das den Kern aller Interventionen aus. Der Abschied von der Illusion, andere Menschen kontrollieren oder zwingen zu können, ist dazu eine wesentliche Voraussetzung. Dies ist eine der Grundlagen des gewaltfreien Widerstandes. Auch wenn es manchmal zunächst enttäuschend erscheinen mag, andere Menschen nicht kontrollieren zu können, ist es letztlich sehr erleichternd. Es lässt uns aus Machtkämpfen aussteigen und fokussiert auf die Verantwortung für das eigene Verhalten, Denken und Fühlen. Das ist die Basis für die Präsenz, die wir als Verantwortliche brauchen, um im Sinne der eigenen Aufgaben gut zu führen, den uns Anvertrauten eine sichere Beziehung und Umgebung zu gewährleisten und sie in ihrer Entwicklung zu fördern.
Sie als Herausgebende – persönlich der Gewaltfreiheit und dem Konzept »Neue Autorität« verpflichtet – formulieren in Ihrem Buch den Anspruch, die »Neue Autorität« als überzeugtes Konzept in Familien, Schulen, Gemeinden, Organisationen und Unternehmen zu realisieren. Wie kann dieses Vorhaben konkret umgesetzt werden?
Hgg: In erster Linie, indem wir keine Fische verteilen, sondern Lust aufs Fischen machen. »Neue Autorität« hat als Haltung schon ein Ansteckungspotential. Die Menschen, mit denen wir arbeiten, erleben sich nach einiger Zeit größtenteils als entlastet, zufrieden und vor allem handlungsfähiger in ihrem Anwendungsfeld. Neben der ganz konkreten Arbeit mit Familien, in Schulen, in Unternehmen oder anderen Kontexten wird es auch in Zukunft darum gehen, das Konzept und die damit verbundene Haltung in Fortbildungen, Vorträgen und Veröffentlichungen zu verbreiten und die Menschen beharrlich davon zu überzeugen, wieviel Potential in diesem Konzept im Diente eines friedvollen Miteinanders zu nutzen ist.
Dies setzen wir auch in eigenen konkreten Maßnahmen um. So haben wir ein Netzwerktreffen in Berlin organisiert, in dem es um den gegenseitigen Austausch und die Vernetzung geht. Auf den internationalen Kongressen werden entsprechende Überlegungen weitergeführt werden. Wir haben in unseren Tagungen zuletzt immer wieder Referierende eingeladen, die soziale, integrative und/oder gesellschaftspolitische Projekte initiiert haben. Nicht zuletzt sind wir das Modell, welches wir den Menschen in unseren Seminaren, Workshops und Fortbildungen geben. Allein schon bei der Vermittlung der Inhalte reflektieren wir intensiv, in welcher Art und Weise und mit welcher Sprache wir vorgehen.
Abschließend noch eine zukunftsgerichtete Frage: Wo sehen Sie weitere Praxisfelder und Anwendungsmöglichkeiten für der Konzept der »Neuen Autorität«?
Hgg: In Schulen gibt es zwar sehr gute Publikationen, allerdings noch in der Fläche nur wenig Umsetzungsbegleitung. In der Sozialpädagogik hat sich schon einiges bewegt bzw. ist vor allem auch in stationärer Jugendhilfe in Bewegung. Die Gemeindearbeit, Gesellschaftspolitik und Exekutive (Polizei) sind spannende Zukunftsgebiete, ebenso wie alles, was in Richtung Selbststeuerung und Abgrenzung von Angebotsfluten geht. Wenn wir zu jener „Müdigkeitsgesellschaft“ werden, wie Byung-Chul Han sie beschreibt, ist »Neue Autorität« als Selbststeuerungsmittel ein geeignetes Konzept.
Großen Entwicklungsbedarf sehen wir im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie (vor allem im Kinder- und Jugendbereich), da wir dort häufig ein stark indikatives Vorgehen in Bezug auf Verhaltensänderungen wahrnehmen, die nicht zuletzt auch den Einsatz von Medikamenten beinhaltet.
Bruno Körner, Martin Lemme, Tobias von der Recke, Claudia Seefeldt, Herwig Thelen.