Interview mit Althistoriker Raimund Schulz zum Werk »Als Odysseus staunte«

Raimund Schulz, Autor von »Als Odysseus staunte. Die griechische Sicht des Fremden und das ethnographische Vergleichen von Homer bis Herodot« spricht im Interview über die alten Griechen und ihre Beziehung zum Fremden und zur Ferne und betrachtet die Wurzeln unserer Wahrnehmung und unseres Umgangs mit dem Fremden anhand der griechischen Antike. Raimund Schulz widmet sich im Besonderem dem historisch-politischen Kontext der Begegnung mit unterschiedlichen Ethnien. Er zeigt auf, wie griechische Autoren von Homer bis Herodot mit Blick auf das Fremde eine Form des ethnografischen Argumentierens entwickelten, die weit über die Antike hinaus Maßstäbe setzten.

 

Wie standen die alten Griechen dem Fremden und dem Fernen gegenüber, was haben sie damit assoziiert?
Raimund Schulz (RS): Fremde sind für die Griechen zunächst ganz wertfrei diejenigen Menschen, die außerhalb des eigenen Haushaltes, später außerhalb der eigenen Stadt leben (und nicht dasselbe Bürgerrecht haben). Wenn Fremde sich dann noch einer anderen, schwer verständlichen Sprache bedienten und exotische Gebräuche pflegten, dann waren sie natürlich noch fremder. Rassistische, politische oder religiöse Vorurteile entstanden dadurch aber in der Regel nicht, und wenn, dann haben sie das alltägliche Verhalten nur wenig beeinflusst.

 

Sie thematisieren die Entstehungsgründe, Formen und Ziele griechischer Fremdwahrnehmung. Was ist hier der zentrale Kern der Fremdwahrnehmung?
RS: Die griechische Fremdwahrnehmung entstand aus konkreten Kontaktsituationen an fernen Küsten. Die Griechen waren meist in der Minderheit und deshalb gezwungen, sich mit ihrem Gegenüber genauer zu beschäftigen sowie deren Verhalten zu studieren, um überleben zu können. Dieser Zwang zum genauen Sehen und Zuhören macht das Geheimnis der griechischen Fremdwahrnehmung aus.

 

Sie konzentrieren sich auf die Zeit von Homer bis Herodot. Warum haben Sie diese beiden Schriftsteller als Grenzen ausgewählt?
RS: Die Zeit zwischen Homer und Herodot ist die Epoche des Aufbruches der Griechen in die Ferne und der Begegnung mit der persischen Supermacht. Homer verarbeitet in der Odyssee das Staunen über die Wunder ferner Welten und die Gefahren, die sie bergen; Herodot ist der erste Autor, der aus diesem Staunen ein ethnographisches Programm machte, das weit über die Antike hinaus wirkte.

 


Homers »Ilias« und »Odyssee« zählen zur Weltliteratur. Welche Bedeutung schreiben Sie besonders der »Odyssee« und der darin enthaltenen Sicht auf das Fremde zu?

RS: Die Odyssee verarbeitet Erstkontakte zwischen griechischen Seefahrern und Einheimischen an fernen Küsten im Rahmen einer epischen Großerzählung. Dabei wird die gesamte Spannbreite möglicher Erfahrungen zwischen grausamen Tod und individuellem Glück geschildert, ohne dass die Fremden durch eine einseitige Brille beurteilt werden. Das hat die Griechen und spätere Leser enorm fasziniert.

 

 

Sie nehmen auch Bezug auf Herakles und bezeichnen ihn als »brutalen Weltwanderer«. Inwiefern grenzt sich Herakles exemplarisch von Homer und Herodot ab?

RS: Odysseus versucht durch List, Redekunst und geschicktes Eingehen auf die Fremden sich und seine Mannschaft aus schwierigen Situationen zu befreien, nicht immer erfolgreich. Herakles ist dagegen der große Einzelgänger, der Ungeheuer und fremde Menschen an den Welträndern tötet. Er steht eher für den griechischen Söldner, Odysseus für den geschickten Seefahrer, Entdecker und Piraten.

 


Sie schreiben den »Historien« Herodots eine neue Sicht auf die Welt zu. Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere an der dort enthaltenen Darstellung des Fremden in dieser griechischen Universalgeschichte?
RS: Herodot sucht die unüberschaubare Vielfalt der Menschen und ihrer Lebensart in der Welt seinen Zuhörern nahezubringen. Anstelle platter Klischees und chauvinistischer Vorurteile, die sich vor allen in Athen, aber auch anderswo im Zuge der Perserkriege breit machten, will er zeigen, dass die Gebräuche und Weltsichten jeder Ethnie ihren eigenen unverwechselbaren Wert haben. Selbst die Perser haben in mancher Hinsicht sogar „bessere“ Einrichtungen als die Griechen.

 

 

Sie nehmen in Ihren Ausführungen Bezug auf den Vergleich zwischen Persern und Griechen. Inwiefern spielte die Begegnung der Perser – besonders mit Blick auf die persische machtpolitische Hegemonie – mit den Griechen eine maßgebliche Rolle?

RS: Mit den Persern begegnet den Griechen die erste Supermacht der Geschichte, dessen Angriff sie aber überraschenderweise abwehren können. Diese fundamentale Erfahrung hat der griechischen Kulturentwicklung enorme Impulse verliehen. Aischylos formuliert in den „Persern“ erstmals einen stringenten ethnographischen Vergleich zwischen den Kriegsgegnern, der wesentliche Eigenschaften auf politischer und militärischer Ebene herausarbeitet. An diesem Vergleich wird sich die Folgezeit abarbeiten, er wird Vorbild für den globalen Orient-Okzident-Vergleich der europäischen Geschichte.

 

 

Inwiefern sehen Sie Zusammenhänge zur heutigen Wahrnehmung des Fremden? Würden Sie sagen, dass die heutige Gesellschaft von den alten Griechen lernen kann?
RS: Wir können heute von griechischen Schriftstellern der Antike lernen, wie vorteilhaft es ist, wenn man Fremdes sehr genau beobachtet, Fremden zuhört und vorurteilsfrei analysiert, anstatt sich mit starren Generaleinschätzungen zufriedenzugeben. Das genaue Beobachten und intellektuelle Staunen über das Fremde schließen dabei positive und negative Urteile über das Fremde keineswegs aus! Nur bewegen sich diese Urteile in einem diskursiven Rahmen, der Kritik an der eigenen Ethnie miteinschließt und jederzeit überprüfbar und korrigierbar bleibt – in die eine oder andere Richtung. 

 


© Vandenhoeck & Ruprecht Verlage. Das Interview wurde von Valentina Fahlbusch schriftlich geführt und ist freigegeben für Ihre Presseberichterstattung. Bitte senden Sie nach Veröffentlichung einen Beleg an presse@v-r.de. Danke!

 

 

 

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