Immer wieder freitags treibt es Schüler, Studierende, aber auch deren Eltern und weitere Erwachsene auf die Straßen deutscher Städte, sie tragen Plakate und Schilder, auf denen sie ein Umdenken in der (Klima-)Politik einfordern. Friedlich, aber doch lauthals rufen sie die Parteien und die Regierung zum Handeln auf und verweisen auf bisheriges politisches Fehlverhalten. Immer wieder montags treibt es Bürgerinnen und Bürger auf die Straßen deutscher Städte mit Bannern und Transparenten, auf denen sie zur Verteidigung des Abendlandes aufrufen, um es vor der vermeintlichen Islamisierung zu schützen. Auch sie fordern die Politik und Regierung zum Handeln auf, fordern ein Umschwenken im bisherigen Kurs und tun lauthals ihren Unmut kund.
Proteste sind allgegenwärtig – ob gegen Bahnhöfe, für das Ende des Braunkohleabbaus, gegen die Abholzung von Wäldern oder für eine offene und tolerante Gesellschaft. Die Schlagzahl von Protesten hat sich gefühlt erhöht, sie sind medial lauter geworden und nehmen mit ihren von außen an die Politik herangetragenen Forderungen in der Öffentlichkeit ihren Raum ein, finden Unterstützer wie auch Gegner sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch in den Reihen von Politikschaffenden. »Fridays for Future«, »Ende Gelände« und »Unteilbar« auf der einen und die – wenn auch nur noch überschaubare – Permanenz von »Pegida« sowie die auf Öffentlichkeitswirkung ausgerichteten rechtsradikalen Provokationen der neurechten »Identitären« auf der anderen Seite: Die Gesellschaft ist (wieder) in Bewegung geraten. Neue und alte Akteure, Ideen, und Konfliktlinien werden wieder stärker außerhalb des Parlamentes, außerhalb der Parteien verhandelt. Und das nicht nur in Deutschland, sondern international, wovon die Präsidentschaftswahl in der Ukraine und die jüngsten Proteste der Gelbwesten in Frankreich wie auch jene gegen die Regierung Viktor Orbáns in Ungarn zeugen.
Die politischen Strukturen scheinen ihr Vermögen, politische und gesellschaftliche Interessen innerhalb der Bevölkerung wahrzunehmen, zu adressieren und auf diese zu reagieren, zunehmend zu verlieren. Oder zumindest scheint das Vertrauen innerhalb der Bevölkerung in die etablierten Strukturen und Parteien, diese Bündelung zu vermögen, angesichts der Vielzahl von Protestbewegungen fortschreitend zu schwinden. Wer nun laut das Wort »Politikverdrossenheit« rufen möchte, sollte an dieser Stelle jedoch innehalten, einen Blick auf die Motive, Adressaten und Forderungen ebenjener Protestierenden werfen. Denn in Anbetracht der bereits genannten Proteste ist das Interesse in der Bevölkerung an Politik und somit den zu treffenden Entscheidung über das gesellschaftliche Zusammenleben und dessen Ausgestaltung sehr wohl vorhanden. Nur werden eben andere, alternative, ja außerparlamentarische Artikulationsformen und Strukturen genutzt. Die Parteimitgliedschaft ist nicht mehr zwingend notwendig, um sich politisch zu engagieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und »etwas zu bewegen«. Politische Organisationen, Initiativen, Einzelprojekte, die mal lose, mal eng vernetzt sind, vermeintlich jedoch mit weniger Bindungskraft als ein Parteibuch, sind attraktive Anlaufstellen geworden. Somit wird eine Form gewählt, die außerhalb des etablierten Politischen steht, abseits von Parlament und Parteien. Dabei wird versucht, von außen Einfluss auf die Politik und Politikschaffenden zu nehmen. Die demokratische Legitimierung des Handelns wird dabei durch die Zahl von Unterstützenden begründet. Wenn am 20. September 2019 um die 1,4 Millionen Bürgerinnen und Bürger für eine bessere, andere und wissenschaftsorientierte Klimapolitik eintreten, liegt eine demokratische Legitimierung recht nahe, oder etwa nicht? Ein Ende der Proteste und Bewegungen ist zumindest nicht in Sicht.
Der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe der Indes spürt diesen Entwicklungen und Phänomenen nach und bildet dabei den Versuch ab, Vergangenheit und Gegenwart des Protestes zu verhandeln. Der Titel mag dabei irritieren und doch naheliegend sein: »Apo« verweist auf die Namensgeberin der »Außerparlamentarischen Opposition«, der Zusatz »4.0« darauf, dass die heutigen Proteste in einer Nachkriegstraditionslinie mit den früheren Apos – der »Kampf dem Atomtod«-Kampagne Ende der 1950er Jahre, der Studentenbewegung und ihrer Ausläufer in den 1960er und 1970er Jahren sowie der Bürgerbewegung in der DDR 1989/90 – stehen, und markiert zudem die Bedeutung des Internets für gegenwärtige Mobilisierungen. Was also ist »neu« an der aktuellen Apo? Welche Inhalte, Akteure, Praktiken kennzeichnen die Protestkultur im 21. Jahrhundert? Und was bedeutet die Apo 4.0 für die Demokratie? Hat Protest sich gewandelt? Ist er angepasster? Wird (noch) die Systemfrage gestellt? Und: Welche Rolle spielen einzelne Persönlichkeiten für die Mobilisierung und die jeweiligen Proteste?
Diesen Fragen in ihrer Bandbreise versucht die Indes mit ihren Beiträgen nachzugehen und zeigt dabei vor allem eines: Die hier thematisierte »Apo 4.0« ist vielfältig, von verschiedensten Motiven, Strategien und Persönlichkeiten geprägt. Sie beeinflusst die Politik sowohl in ihrer Agenda als auch in ihrer Handlungsstrategie. Dass dieses Verhältnis von Spannungen geprägt ist oder sein kann, scheint beinahe unumgänglich
Die Mitteilung orientiert sich am Editorial der aktuellen Indes von Marika Przybilla-Voß und Matthias Picus.
Das Editorial sowie das Inhaltsverzeichnis der Indes zu »Alternative politische Organisationen – APO 4.0?« finden Sie hier.