Als INDES-Themenheft zu den eigentlichen Olympischen Spielen und der Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr geplant, kam auch in der Heftplanung die Corona-Pandemie dazwischen. Sämtliche sportlichen Großveranstaltungen wurden aufgrund der Pandemie abgesagt, sodass der Schwerpunkt des Heftes entgegen des gegenwärtigen Zeitgeistes erscheinen mag. Doch ist dem wirklich so? Der Sport hat immerhin auch ohne spektakuläre Events, bei denen sich die athletische Elite misst, eine enorme Bedeutung sowie einen hohen Stellenwert für die Gegenwartsgesellschaft.
Vielmehr lässt sich die Begeisterung für den Sport mit Helmuth Plessner essenziell mit der modernen Gesellschaft und der ihr entsprechenden Sozialverfassung verbinden. Plessners Darstellung in dem Aufsatz »Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft« (Helmuth Plessner: Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft (1956), in: Dux u. a. (Hg.), Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 2003, S. 147–166) zufolge ist der Sport eine »Ausgleichsreaktion« auf die im Arbeits- und Alltagsleben unbefriedigten Bedürfnisse nach Erholung und sozialem Kontakt, Aggression und Spiel, Selbstbestätigung und Heldenverehrung. Zunächst insofern, als die Menschen in den arbeitsteiligen, mechanisierten, bürokratisierten Gesellschaften zu bloßen »Rädern in einem Getriebe« geworden seien, »das sie selbst kaum noch überblicken und in dem sie nur noch eine Teilfunktion in einer unpersönlichen Einrichtung, in hochspezialisierter Verantwortung für irgendeine Teilaufgabe« besäßen. Die Folge sei ein Leiden an der eigenen Unsichtbarkeit, an individueller Anonymität und subjektivem Untergehen in der Masse – ein Leiden, das sportliche Siege zu kurieren versprächen. Damit böte der Sport einen Raum, in dem die Versprechen demokratischer Gesellschaften von gleichen Rechten und gleichen Lebenschancen, die hier trotz aller Garantien durch die wirkungsmächtigen Effekte sozialer Herkunft, ethnischer Abstammung und geschlechtlicher Zugehörigkeit weithin und in den letzten Jahrzehnten wieder zunehmend konterkariert werden, eingelöst würden.
Auch mit Blick auf die durch das Coronavirus verursachten Gefahren für die Gesundheit lassen sich Verknüpfungen zum Sport herstellen. Schließlich hat der Sport unzweifelhaft einen Einfluss auf die Gesundheit. Mehr noch: Dass die sportliche Betätigung zu jenen Freiheiten gehört, die den Bürgern nur in letzter Konsequenz verwehrt bleiben sollen, dürfte ganz wesentlich mit dem zugeschriebenen Nutzen des Sports für Gesundheit und Wohlbefinden zusammenhängen. Doch im Zuge der coronabedingten Beschränkung auf den Individualsport wird der Sport eines Großteils seiner Facetten und damit seiner gesellschaftlichen und politischen Potenziale beraubt. So mögen dem Einzelnen etwa mit dem zeitweiligen Ruhen des Vereinssports zentrale Gemeinschaftserfahrungen fehlen. Und das Beispiel Olympia zeigt, dass die Bedeutung von Sportgroßereignissen vielschichtiger ist als der entspannungsselige und unterhaltungsheischende Fernsehkonsum derselben wahrscheinlich spontan vermuten ließe.
Erstmals in der Geschichte wird in diesem Jahr außerhalb von Kriegszeiten mit der olympischen Tradition gebrochen. Vier Jahre nach den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro können 2020 keine Spiele stattfinden. Was für die einen nur ein wiederkehrendes Sportgroßereignis ist, ist für die anderen unter politischen, religiösen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten kaum wegzudenken. So hielten die Olympischen Winterspiele 2018 auf sportlicher Ebene mit dem Sieg Norwegens im Medaillenspiegel nicht unbedingt eine Überraschung bereit, dafür aber umso mehr unter symbolpolitischen Gesichtspunkten, stellten Nord- und Südkorea bei den Frauen doch ein gemeinsames Eishockey-Team auf. Was im Bereich der harten Realpolitik vollkommen abwegig erscheint – eine Vereinigung der beiden Koreas –, das macht(e) der Sport möglich. Damit reiht sich die Neuauflage der Spiele des Jahres 2018 durchaus in eine Tradition der olympischen Wettkämpfe ein, besaßen sie doch seit ihren Anfängen immer auch politische, religiöse und gesellschaftliche Implikationen. So herrschte im antiken Griechenland während ihrer Dauer das Gebot, die Region rund um Olympia ohne Waffen zu betreten. Das Ereignis galt als diplomatisches Forum und diente dem gesellschaftlichen Austausch.
Bis heute wohnt dem Sport ein integratives Potential inne, auch gegenwärtig noch dient er als Kommunikationsgelegenheit über Ländergrenzen, Sprachbarrieren und (sub-)kulturelle Trennungslinien hinweg und fungiert darüber hinaus als eine Form des zivilisierten Wettbewerbs. Freilich zeigen sich hier auch Widersprüche: Sport soll einen und ist dennoch ein Wettkampf. Er ermöglicht Austausch, Verständigung und Solidarität, ist aber zugleich Ursache für Zwietracht und Hass. Er kanalisiert Energien und beugt Gewalt vor, doch sind sportliche Spiele auch immer wieder Anlass für gewalttätige Auseinandersetzungen, sei es auf dem Platz oder an dessen Rand, wenn enthemmte Fanszenen aufeinandertreffen.
So oder so verbietet es die Vielschichtigkeit des Phänomens Sport, ausschließlich Lobgesänge auf ihn anzustimmen. Die Geschichte und Gegenwart des Sports, seine vielfältigen Verbindungen mit Kultur, Ökonomie, Politik und Gesellschaft zeichnen ein spannungsreiches Bild. Die aktuelle Ausgabe der INDES ist darum umso mehr bestrebt, ebendiese Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Sports unter verschiedenen Blickwinkeln abzubilden und in einem nur auf den ersten Blick ereignisarmen Sportjahr neu über seine Ansprüche, Erscheinungsweisen und Effekte nachzudenken.
Dieser Beitrag orientiert sich am Editorial der aktuellen INDES »Sport« (1/2020) von Dr. Matthias Micus und Luisa Rolfes. Das Editorial im Original finden Sie hier.