Finanzkrise, Corona, Klimawandel – die wisseschaftliche Expertise gewinnt an Bedeutung. Die aktuelles INDES (03/2020) betrachtet das Verhältnis von Expertise und Demokratie.
»Expertise und Demokratie« – seit geraumer Zeit befindet sich die repräsentative Demokratie in einer Legitimationskrise. Von innen durch die diskursvergiftende Ressentimentpolitik vorzugsweise rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien herausgefordert, wird sie von außen durch eine wachsende Zahl zunehmend unverblümt autoritär regierter Staaten unter Druck gesetzt, deren Machthaber zwar den Demokratiebegriff für sich reklamieren, sich aber an den Wesenskern des Demokratischen, den Gleichklang aus individueller Freiheit und rechtlicher Gleichheit, allenfalls sehr eingeschränkt gebunden fühlen. Weit über die deutschen Landesgrenzen hinausgehend spiegeln anhaltend schwache Vertrauenswerte für politische Parteien nicht nur eine weitverbreitete Politikverdrossenheit. Auch die gleichermaßen wütende wie pauschale Elitenschelte weist auf substanzielle Funktionsdefizite des Repräsentativsystems hin – und das nicht erst seit und infolge der Corona-Pandemie.
Vor allem klassische Massenorganisationen wie die Volksparteien gelten als starr und unzugänglich, abschreckend und im besten Falle bieder. Standen sie in ihrer Blütezeit in den 1970er und 1980er Jahren noch in dem Ruf, verlässliche Garanten von Stabilität, Zusammenhalt und erfolgreicher Nachkriegsordnung zu sein, scheinen die damaligen Charakteristika der ideologischen Offenheit, organisatorischen Tiefe und gesellschaftlichen Omnipräsenz heute in der öffentlichen Wahrnehmung ersetzt worden zu sein durch ideologische Beliebigkeit, Organisationsverkrustung und Selbstüberhebung. Zumal die Gremienvielfalt als Quelle einer opaken Hinterzimmerkultur und kantenschleifender Ochsentour-Karrieren angesehen wird, die auf Beteiligungswillige abschreckend wirken würden und stromlinienförmige Jasager sowie weltfremde Karrieretypen hervorbrächten.
Wenig verwunderlich insofern, dass spätestens seit den 1990er Jahren immer mal wieder der Ruf nach unkonventionellen Charakteren und unabhängigen Experten ertönt. Besonders medienwirksam seit der Coronakrise, aber auch schon in der Debatte um die Klimakrise sowie die Wirtschafts-, Finanz- und Eurokrisen der Nullerjahre sind Wissenschaftlerinnen zu wichtigen, wenngleich immer auch umstrittenen Ratgebern der Politik geworden. Die Wissenschaftsgläubigkeit einer Bewegung wie Fridays for Future ist jedenfalls bemerkenswert, und markant ist die öffentliche Nachfrage nach Epidemiologen und Virologen als Erklärer und Mahner während der Corona-Pandemie. Es sind dies auch Momente, in denen Seiteneinsteiger in politische Spitzenämter berufen werden, oftmals unter dem euphorischen Beifall aus den Politikredaktionen der Leitmedien.
Doch tatsächlich hadern auch die quereingestiegenen Expertinnen zumeist rasch mit den Herausforderungen des Politischen, das in modernen Gesellschaften einem normalen Beruf ähnelt, mit der Parteikarriere als Ausbildungsersatz. Mitgliederversammlungen stellen, Übungsräume für das Training politisch relevanter Fertigkeiten dar – und Wahlen sind Bewährungsmomente, in denen sich die sprichwörtliche Spreu vom Weizen trennt. In anderen Berufsfeldern erworbene Meriten sind mitnichten Erfolgsgaranten auch in der Politik, ein renommierter Professor und glänzender Unternehmenslenker nicht zugleich ein Meister im »Streben nach Machtanteil«, wie Max Weber Politik einst definiert hat. Die Erfolgsbilanzen – sei es von Seiteneinsteigern oder von Expertenregierungen – fallen denn zumeist erstaunlich bescheiden aus, verglichen mit dem Überdruss an den vermeintlich minderbegabten politischen Profis und den Referenzen der Experten.
Wobei sich natürlich einwenden lässt, dass Experten nicht gleich Experten sind, wie sich ganz deutlich in der gegenwärtigen Lage zeigt. Wenn derzeit über den politischen Einfluss von Wissenschaftlern oder umgekehrt von der Verwissenschaftlichung der Politik gesprochen wird, sind vor allem Virologen, Epidemiologen, Mikrobiologen und Mediziner gemeint. Sozial-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaftlerinnen hingegen, die üblicherweise für den Perspektivwechsel aufgrund der grundsätzlichen Politiknähe ihrer Arbeitsgegenstände prädestiniert sind, spielen in der öffentlichen Wahrnehmung keine hervorgehobene Rolle.
Doch kann andererseits und mit einer gewissen Berechtigung in der Unterscheidung zum politischen Bereich das Verbindende der Wissenschaftssphäre hervorgehoben werden. Etwas holzschnittartig wird dann der Gestus demonstrativer Selbstgewissheit, wie er den politischen Akteuren im Dauerkampf um Wählermeinungen und -stimmungen unverzichtbar zu sein scheint, mit der konstitutiven Haltung ständigen Hinterfragens und Revidierens im akademischen Bereich kontrastiert. Vollends zu überzeugen vermag diese Gegenüberstellung nicht, jedenfalls nicht in Demokratien, zeichnet sich hier doch der Raum des Politischen aus durch die allgegenwärtige Möglichkeit unblutiger Machtwechsel via Wahlen, die Legitimität von Kritik und eine dynamische Politikformulierung in Abhängigkeit von und in Wechselwirkung mit veränderlichen Mehrheitsmeinungen – eine definitorische Unfertigkeit, ein ständiges Werden also, das die Demokratie zu einer so fragilen wie offenen, prinzipiell gerechten politischen Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens macht.
Mehr noch: Gerade vor dem aktuellen Hintergrund der Corona-Pandemie ist auch daran zu erinnern, dass Expertenpolitik durchaus Gefahrenmomente für Demokratien enthält bzw. sich an den Merkmalen von Demokratien reibt, wie sie den Lehrbüchern des Sozialkundeunterrichtes zu entnehmen sind. Expertinnen (und Wissenschaftlerinnen) denken in den Kategorien richtig und falsch, wahr und unwahr. Die demokratische Auseinandersetzung dagegen gründet gerade darauf, dass es unterschiedliche, grundsätzlich berechtigte Interessen gibt. Demokratien kennzeichnet ihr Anspruch der politischen Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von deren Wissensstand, Bildungsabschlüssen oder Fähigkeiten. Expertenpolitik hingegen privilegiert eine exklusive Gruppe, die sich durch besondere Bildungsabschlüsse und überlegenes Wissen, gewissermaßen das platonische Element, von der Mehrheitsbevölkerung abhebt.
Eben die Kritik an Politikerinnen, die von den alltäglichen Sorgen und Nöten der Bevölkerung entkoppelt wirken sowie an einer Herrschaft in homogenen Zirkeln gegenüber äußeren Einflüssen sich verschließender Experten hat in der Vergangenheit schon ein ganz anderes Alternativprogramm zur etablierten Berufspolitik befördert, nämlich Strategien zur Verlebendigung der Zivilgesellschaft und Ausweitung der Bürgerbeteiligung. Zuletzt haben in Deutschland wie anderswo per Losverfahren zusammengesetzte Bürgerräte für Furore gesorgt. Mit diesen wie anderen Partizipationsinnovationen soll den gestiegenen Beteiligungserwartungen der Bevölkerung entgegengekommen werden. Indem durch mehr Beteiligungsmöglichkeiten Brücken zwischen Politik und Gesellschaft geschlagen werden, soll die Demokratie robuster und lebendiger, die Lust an der Debatte gefördert und zugleich ein Gegengift gegen die Verlotterung der Diskurskultur verabreicht werden. Unter dem Anspruch der stärkeren politischen Beteiligung, insbesondere sozial schlechter Gestellter, erscheinen Einflussgewinne von Experten auf die Politikformulierung höchst ambivalent, die Wechselbeziehungen von Expertentum, Politik und Demokratie als ebenso problematisch wie notwendig.
Dieser Beitrag orientiert sich am Editorial der aktuellen INDES »Expertise und Demokratie« (03/2020) von Dr. Matthias Micus und Luisa Rolfes. Das Editorial im Original finden Sie hier.
Expertise und Demokratie – INDES 03/2020
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