Zum 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins nimmt der Literaturwissenschaftler Jürgen Link Hölderlins Griechenland-Faszination in den Blick und zeigt auf, wie das Prinzip der »Fluchtlinie« neue Erkenntnisse offenbart.
Friedrich Hölderlins Bezug zu Griechenland ist sowohl in seiner Vita wie in seinem Werk deutlich auszumachen. Jürgen Link betrachtet Hölderlins Griechenlandschwärmerei, die Griechenlandbewegung als dichterische Antizipation sowie die Bearbeitung durch griechische Figuren, Motive und Themen. Zudem ist festzuhalten, dass Hölderlin – hoch reizbar und einer zyklotomen Nervosität ausgeliefert – die Reaktionen, Gefühle und Zustände seines Körpers mithilfe griechischer Mytheme fassen und ausdrücken wollte.
Die gesamten lebensweltlichen wie künstlerischen Griechenlandbezüge, die Hölderlins unverwechselbare Faszination für Neu- und Altgriechenland mit sich bringen, versucht Jürgen Link in einer Reihe von Kontexten mit der Kategorie »Fluchtlinie« abzubilden. Der Ausgangs- wie der Zielraum dieser griechischen Fluchtlinie ist vierpolig angelegt, wobei sich Deutschland und Neugriechenland sowie Frankreich und Altgriechenland gegenüberstehen. Dabei teilt Link die verbreitete Ansicht, dass die mehrpolige Fluchtlinie Hölderlins nicht ausschließlich nach Altgriechenland, sondern in die Moderne zielt.
Die »Fluchtlinie« ist als Weg einer realen/befreienden Flucht wie die (utopische) perspektivische Aussicht auf einen unbekannten, freien Raum zu verstehen. In dieser Lesart wird Deutschland als Gefängnis und Neugriechenland literarisch motiviert als »Fluchtlinie« betrachtet. Insgesamt bildet die »Fluchtlinie« ein komplexes und sehr widersprüchliches Ausgangsgeflecht.
In Hölderlins Werk lässt sich ein stetiges Miteinander der Fluchtlinie nach Neu- und Altgriechenland ausmachen. Dies zeigt sich beispielsweise auch bei den griechischen Figuren, Motiven und Themen, die in der Regel zweistimmig angelegt sind und allesamt ebenfalls eine moderne Stimme besitzen. Das gilt gleichfalls für die griechisch-mythologischen Figuren, Themen und Motive, die in der Regel gleichsam zweistimmig angelegt sind und eine „höher aufgeklärte“, entmythologisierte Bedeutung besitzen.
Dabei bildet die tetrapolare Struktur Deutschland/Neugriechenland exemplarisch Fälle für das Defizit an Möglichkeitsbedingungen ab während Altgriechenland/Frankreich als glücklicher Fall der Emergenz solcher Bedingungen hervortreten. Neben dieser Mehrpoligkeit tritt zudem eine plurale Bezugsebene, die »Fluchtlinie« umfasst mehrere Griechenländer verschiedener Epochen und Kulturen von den prähistorischen Zeiten bis Neugriechenland. Die wesentlichen Bedingungen sind politischen und religiösen Typs, wobei die »Fluchtlinie« Griechenland die Problematik von Hölderlins „Demokratie“ und Hölderlins „Göttern“ eröffnet.
Dass sich die »Fluchtlinie« nicht nur auf das Werk bezieht, wird in der Ausformulierung von Hölderlins deutsch-griechischen Körper deutlich. Dieser naturgeschichtliche Aspekt der »Fluchtlinie« verdeutlicht eine explizite Auswirkung auf Hölderlins physisches und psychisches Wohlbefinden.