Wie handeln Menschen vor, während und nach einer Flucht? In welchen politischen Konstellationen des 20. und 21. Jahrhunderts kam und kommt es zu Fluchtbewegungen? Anhand welcher Quellen und Konzepte lässt sich Flucht historisch erforschen? Diesen Fragen geht das neue Themenheft 03/2018 der »Zeithistorischen Forschungen« mit Fallstudien und methodischen Reflexionen nach. Die 11 Beiträge greifen Diskussionen der Migrationsgeschichte auf und damit auch in tagesaktuelle Debatten ein.
Das Heft versammelt Aufsätze und Essays unterschiedlicher Disziplinen – der Geschichts- und Kulturwissenschaft, der Soziologie und Sozialanthropologie sowie der Literaturwissenschaft. Im Fokus steht die Flucht als ein Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen. Die Autorinnen und Autoren analysieren die verschiedenen Faktoren, die eine Flucht prägen: internationale Rechtsnormen und nationale Interessen, Herrschaftsordnungen und Gewalt, Solidarität und existenzielle Bedrohung, Eigensinnigkeit und wiederkehrende Muster. Der alleinige Blick auf staatliche »Flüchtlingsregime« wäre ebenso unzureichend wie die Formel von der »Autonomie der Migration«. Zum Verständnis von Flucht, ihren Ursachen und ihren Folgen sind integrierende Zugänge erforderlich.
Ein Aufsatz von Léa Renard geht für das deutsche Kaiserreich um 1900 und die Bundesrepublik seit 1990 der Frage nach, wie Migration durch Statistik sozial relevant wurde. Sie zeigt, dass sich der Fokus verschob: Galten Aus- und Einreise früher als Kategorien zur Beschreibung der Bewegungen von Menschen, so dient die statistische Erfassung heute der Beschreibung der Menschen selbst (»Migrationshintergrund« als Persönlichkeitsmerkmal).
Julia Eichenberg betrachtet »Macht auf der Flucht«: Sie forscht über die verschiedenen europäischen Exilregierungen, die sich während des Zweiten Weltkrieges in London sammelten. Militärs und Monarchen, politische Eliten und Verwaltungsmitarbeiter trafen sich auf der Flucht vor der NS-Herrschaft in der britischen Hauptstadt. Dies war eine formative Phase europäischer Politik mit Wirkungen für die Nachkriegszeit.
Anna Greshake fragt, was geschieht, wenn der Wartezustand in Flüchtlingslagern über Jahrzehnte andauert, wenn also das Provisorium zu einer permanenten Lebensform wird. Teile der urdusprachigen Minderheit in Bangladesch leben seit über 40 Jahren in Camps. Dies ist eine wenig bekannte Spätfolge der indischen Teilung am Ende der britischen Kolonialherrschaft. Ein Essay des renommierten französischen Sozial- und Kulturanthropologen Michel Agier ergänzt dies am Beispiel des »Dschungels« von Calais um generelle Überlegungen zu Zeiterfahrungen von Menschen in Flüchtlingslagern.
Weitere Beiträge des Hefts folgen Walter Benjamins letzter Fluchtroute in den Pyrenäen, stellen neuere deutsche und französische Romane über Flucht-Erfahrungen vor und präsentieren in der Rubrik »Neu gelesen« auch ältere Arbeiten zum Thema. Zudem wird geschildert, wie Geflüchtete und Historiker/innen in Italien gemeinsam ein Archiv mit Flucht-Erzählungen aufbauen. Solche Projekte machen deutlich: Geschichte kann nicht nur über Migranten, sondern auch mit ihnen geschrieben werden.
Die „Zeithistorischen Forschungen“ werden am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (http://www.zzf-potsdam.de) herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich Open Access (http://www.zeithistorische-forschungen.de). Die Herausgeberinnen des aktuellen Themenhefts sind Bettina Severin-Barboutie (Historisches Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen) und Nikola Tietze (Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur).
Dr. Jan-Holger Kirsch – Öffentlichkeitsarbeit, Zentrum für Zeithistorische Forschungen.